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100 Sprachen hat das Kind, 99 werden ihm gestohlen - ein Exkurs in die Reggio-Pädagogik

Ein Kind, dass 100 Sprachen spricht ist ein Wunderkind? Nein, ganz normal - sagt die Reggio-Pädagogik. Gemeint sind natürlich nicht Fremdsprachen, sondern Wege sich auszudrücken und somit Wege mit der Welt zu interagieren.

 

Und warum werden diese dem Kind gestohlen? Weil das Kind in seinem Alltag häufig nicht die Chance hat, eben diese ihm mitgegebenen Ausdrucksmöglichkeiten auch zu nutzen. Weil der von uns Erwachsenen für das Kind gestaltete Alltag oft wenig Inspiration und kreative Ausdrucksmöglichkeiten bietet sondern stattdessen die Kinder gewissermaßen ruhig stellt und abstumpft. Doch dass können wir ändern! Und dazu möchte ich mit diesem Artikel anregen:

 

Und es gibt Hundert doch


Ein Kind ist aus hundert gemacht.

 

Ein Kind hat hundert Sprachen,

hundert Hände,
hundert Gedanken,
hundert Weisen zu denken, zu spielen, zu sprechen.

Hundert, immer hundert Weisen zu hören,
zu staunen, zu lieben,
hundert Freuden
zu Singen und zu Verstehen.

Hundert Welten zu entdecken,
hundert Welten zu erfinden,
hundert Welten zu träumen.
Ein Kind hat hundert Sprachen,
(und noch hundert, hundert, hundert),

aber neunundneunzig werden ihm geraubt.


Die Schule und die Kultur trennen ihm den Geist vom Körper.
Sie sagen ihm,
ohne Hände zu denken,
ohne Kopf zu handeln,
nur zu hören ohne zu sprechen,
ohne Freuden zu verstehen,
nur Ostern und Weihnachten
zu staunen und zu lieben.
Sie sagen ihm, es soll
die schon bestehende Welt entdecken.

Und von hundert werden ihm neunundneunzig geraubt.

Sie sagen ihm,
dass Spiel und Arbeit,
Wirklichkeit und Fantasie,
Wissenschaft und Vorstellungskraft,

Himmel und Erde,
Vernunft und Träume
Dinge sind, die nicht zusammen passen.

 

Ihm wird also gesagt,
dass es Hundert nicht gibt.
Das Kind aber sagt:
„Und es gibt Hundert doch.“

 

Gedicht von Loris Malaguzzi gefunden auf Dialog Reggio.

 

Unser Schmetterlingstisch, eine Reggio-Provokation zum Erkunden und Gestalten
Unser Schmetterlingstisch, eine Reggio-Provokation zum Erkunden und Gestalten (Artikel ist Verlinkt)

Was Reggio-Pädagogik bedeutet

Starke und kreative, soziale und selbstbestimmte, wissensdurstige und kompetente Kinder im Mittelpunkt, engagierte Erwachsene an ihrer Seite sowie sorgfältig gestaltete, einladende und inspirierende Räume - das ist die Reggio-Pädagogik. 

 

Entstanden aus einer Elterninitiative im Nach-Kriegs-Italien, möchten die Reggio-Einrichtungen selbstständige, aktive und kompetente Menschen heranwachsen lassen. Dabei handelt es sich nicht um ein pädagogisches Konzept im eigentlichen Sinn, sondern vielmehr um ein wertschätzendes Menschen- bzw. Kinderbild und eine Reihe von Prinzipien, welche in den Kinderbetreuungseinrichtungen von Reggio Emilia umgesetzt werden. Aufgrund der äußerst positiven Erfahrungen mit diesem Konzept, wurde es als Reggio-Pädagogik bekannt und findet weltweit immer mehr Freunde.

 

Das Kind wird im Rahmen der Reggio-Pädagogik als kompetente Gestalter seiner eigenen Bildung anerkannt. Es agiert selbstbestimmt und wird gleichzeitig begleitet von anderen Kindern, seinen Eltern, Erziehern sowie vielfältigen anderen Erwachsenen seiner Umgebung (Kindererziehung als kommunale Gemeinschaftsaufgabe). Innerhalb dieser Gemeinschaft ist das Kind ein vollwertiges Mitglied und hat in allen Entscheidungen ein Mitspracherecht - eine Hierarchie gibt es nicht. Dadurch wird demokratisches und soziales Denken und Handeln bewusst gefördert.

 

Jedes Kind ist neugierig und experimentierfreudig. Es genießt eine ästhetische Umgebung sowie hochwertige Materialien. Seine Rechte und seine Eigenständigkeit werden jederzeit gewahrt. Damit ist das Kind kein unfertiges Erziehungsobjekt oder ein leeres Behältnis, welches mit Wissen und Regeln gefüllt werden muss. Stattdessen ist es das Ziel, seine Gesamtpersönlichkeit sowie jegliche seiner "Sprachen" (Sprache, nonverbale Kommunikation, künstlerischer und spielerischer Ausdruck) zu sehen, wertzuschätzen und zu unterstützen. Die Kinder wachsen und lernen, indem sie täglich dazu angeregt werden ihr Verständnis ihrer Umwelt auszudrücken und weiter zu entwickeln. Dies geschieht auf vielfältige Weise, wobei künstlerischen und kreativen Ausdrucksformen eine große Bedeutung haben.

Einladung zum Malen und Zeichnen, als Reggio-typische Inspiration
Einladung zum Malen und Zeichnen (Artikel ist Verlinkt)

Auch die Umgebung, d.h. die Räume sowie die natürliche Umgebung spielen eine große Rolle. Räume, welche für die Kinder gestaltet werden, gelten als 3. Lehrer. Sie sollen Kinder inspirieren und ihnen vielfältige Möglichkeiten bieten. Sorgfältig ausgewählte, ästhetische und hochwertige Spiel- und Kunstmaterialien sowie viel natürliches Licht und eine übersichtliche Präsentation sind typisch für Reggio-Einrichtungen.

 

Genaugenommen gibt es kein Konzept, welches man als Reggio-Pädagogik bezeichnen kann und deshalb auch keine nach den Methoden der Reggio-Pädagogik arbeitenden Einrichtungen. Vielmehr geht es um die Konzeption einer zukunftsweisenden und kindorientierten Kinderbetreuung für die italienische Stadt Reggio Emilia. Bekannt geworden ist die Reggio-Pädagogik  insbesondere durch den Einsatz des Pädagogen Loris Malaguzzi sowie durch die Kür zum besten "Early Childhood Education"- Programm der Welt durch das Newsweek Magazine im Jahr 1991.

 

Für diejenigen, die nun wie ich völlig begeistert sind, gibt es auch in Deutschland an der Reggio-Pädagogik orientierte KiTas. Eine Karte findet sich auf der Website Dialog Reggio. Oder du lässt dich  einfach für zuhause inspirieren:

 

Winterliche Einladung bzw. Reggio-Provokation zum kreativen Spielen mit unserem Indoor-Schnee
Winterliche Einladung bzw. Reggio-Provokation zum kreativen Spielen mit unserem Indoor-Schnee (mit Rezept, Artikel ist Verlinkt)

Und wie kann man das zuhause umsetzen

Wunderschöne Räume für die verschiedenen Aktivitäten, ein eigenes Atelier sowie das soziale Lernen in der Gruppe - wie soll man das zuhause umsetzen?

 

Ich denke, der Kern der Reggio-Pädagogik ist das Menschen- bzw. Kinderbild: das Kind steuert seine Lernprozesse und Interessen selbst, wir Erwachsenen sind beobachtende Unterstützer. Das nimmt viel Druck (Animieren, Fördern, für möglichst viel Input sorgen) und Verantwortung von uns Erwachsenen und lässt Kindern Raum, sich aus ihrem Inneren heraus zu entwickeln.

 

Die Aufgabe der Erwachsenen besteht darin, dem Kind ein begleitender Partner zu sein. Jemand, der mit dem Kind über die Welt staunt und Fragen stellt, der gemeinsam mit dem Kind Hypothesen aufstellt und experimentiert. Allerdings auch jemand, der bewusst einen Schritt zurücktritt und die Verantwortung beim Kind lässt. Eben jemand, der abwartet, zuhört und beobachtet um im passenden Moment als hilfsbereiter Partner bereit zu stehen oder einen Impuls zu geben. Das lässt sich wunderbar zuhause umsetzen.

 "Entdecke die Welt"-Tisch, Reggio Provokation zum Atlas, Einladung, Kinder unserer Welt entdecken
Ein "Entdecke die Welt"-Tisch, der es bisher nicht in einen Artikel geschafft hat

Auch "die Umgebung als dritter Lehrer" lässt sich in etwas angepasster Form zuhause wunderbar umsetzten. Es geht um Spielmaterialien, welche die Fantasie der Kinder beflügeln. Um einladend gestaltete Räume, welche die aktuellen Interessen ihrer Bewohner widerspiegeln. Um vielfältige und möglichst hochwertige Kreativmaterialien und echte Werkzeuge anstelle von unbrauchbaren Kindervarianten. Es geht darum Kindern viele Materialien anzubieten aber dabei wenig Vorgaben über deren Verwendung zu machen. Und es geht darum die Fragen, Gedanken und Lösungen der Kinder wahrzunehmen, wertzuschätzen und auf eine kindgerechte Art zu dokumentieren.

 

Wenn du dir dafür Unterstützung wünschst, dann empfehle ich dir meinen Newsletter: dort berichte ich immer wieder von konkreten Umsetzungsideen sowie von allgemeinen Tipps auf dieser Reise. Als Willkommensgeschenk erhältst du meinen Leitfaden für einen Reggio-orientierten Studio-Bereich - mit Tipps für einen familiären Kreativbereich, tollen Materialien und Einladungsideen zum nachmachen:

Ideen für den Buchstaben R für Anfänger, eine Reggio Provokation
"Mama, ich will morgen das R lernen" (Artikel ist Verlinkt)

Weitere Punkte, die ich für hilfreich halte:

  • der große Stellenwert von Kunst als Form sich auszudrücken, quasi als Kommunikations- und Lernmethode
  • der Natur auch drinnen Raum geben, als Deko-, Spiel- und Lernmaterial
  • Inspiration in Form von "Provokationen" = Einladungen, d.h. ansprechend präsentierte Materialien, von denen die Kinder gewissermaßen kaum ihr Finger lassen können (schau dir als Beispiele die Bilder in diesem Artikel an, sie sind, wo sinnvoll, mit den jeweiligen Artikeln verlinkt)
  • Dokumentation für die Kinder - ihren Gedanken Raum geben und zu über-/weiterdenken anregen
  • Spiegel integrieren, damit Licht schönere und interessantere Räume schaffen kann und damit weitere Perspektiven neugierig machen
Einladung zum Lesen erster Worte, eine Reggio Provokation
Einladung zum Lesen erster Worte

Das Ganze klingt eher abstrakt? Dann begleite mich doch dabei, wie ich unser Zuhause nach und nach entsprechend dieser Ideen umgestalten werde und wie ich hier ihm Blog Kinderideen, Spiele und ähnliches dokumentiere. Ein aktuelles Beispiel sind die einfachen Umhänge für die Verkleidungskiste, womit meine Räuberkinder phantasievoll in verschiedene Rollen schlüpfen können.

Pinguine Arktische Tiere Reggio Bücher entdecken Spielidee
Pinguine und "Wintertiere" eine Einladung zum Bücherentdecken sowie eine Miniwinterwelt-Spielidee (nicht im Bild, aber im verlinkten Artikel)

Konnte ich dich neugierig machen oder sogar begeistern?

Dann berichte mir doch in den Kommentaren davon.

Eine Einführung in die Reggio-Pädagogik mit Freebie: Kreativbereich einrichten
Pin mich :-)

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Kommentare: 4
  • #1

    Lovisa (Donnerstag, 31 August 2017 09:49)

    Eine wundervolle Seite hast du hier :D Ich bleibe mal und stöber ein wenig. Lieben Gruß aus dem Schwedenland von Lovisa

  • #2

    Maria (Samstag, 02 September 2017 14:08)

    Hallo Lovisa,
    danke für dein Kompliment! Schweden war lange auch mein Traumland, ich wäre fast dort geblieben (habe nach der Schule ein Jahr dort gelebt) oder wäre zurückgekommen. Mittlerweile möchte ich mich nicht mehr damit abfinden, dass es gewissermaßen das zweite Land Europas ist, welches ausnahmslos alle Kinder in die Schule zwingt. Auch wenn dort Schule besser zu verkraften ist, als hier Schule. Aber wir kommen auf jeden Fall Urlaubsweise wieder.
    Liebe Grüße,
    Maria

  • #3

    Mangold (Dienstag, 08 Januar 2019 12:05)

    Hallo Maria,

    auch ich bin begeistert von Ihrer Seite und bedanke mich für Ihre herzlichen und kreativen Einladungen! Ich komme gerne vorbei und statte Ihnen einen Besuch ab.

    Liebste Grüße,
    Mangold

  • #4

    Momo Ende (Donnerstag, 06 Februar 2020 17:46)

    Ich bin begeistert und gehe morgen motiviert ideengeladen in meine Kita :). Danke!!!