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Bei uns hat Selbstbestimmung (noch?) Grenzen - welche und warum?

 

Ich habe in den letzten Wochen über die Selbstbestimmung von Kindern geschrieben – ein Thema, welches mir sehr am Herzen liegt. Ich bin mir bewusst, dass dieses Thema viele große Menschen herausfordert und das es in den uns umgebenden Strukturen sehr schwer konsequent lebbar ist. Ich bin mir aber auch nicht sicher, inwieweit wir hier auf Konsequenz setzen müssen. Es muss nicht alles schwarz oder weiß sein und es gibt nicht nur völlige oder komplett fehlende Selbstbestimmung. Für mich ist es völlig ok, dass wir uns hier auf einer Reise befinden und noch nicht am Ziel angekommen sind. Trotzdem tut diese Reise uns allen so gut, dass wir unheimlich froh sind uns auf den Weg gemacht zu haben. Da ich dies jedem anderen nur empfehlen kann, möchte ich heute ein wenig berichten, wie bei uns das Thema Selbstbestimmung aktuell ein wenig eingeschränkt wird, um im Großen und Ganzen relativ entspannt gelebt werden zu können:

Ich möchte das ganze aufteilen in die eine Grenze, die immer und in meinen Augen für jeden besteht sowie "weiche" Grenzen innerhalb unserer Familie. Erstere müssen die Kinder einfach nach und nach in ihrem gesamten Ausmaß kennenlernen und auch in schwierigen Situationen ein Gefühl dafür entwickeln - das ist Herausforderung genug. Auf der anderen Seite stehen eher "weiche" Grenzen, die wir aktuell aus unserem Gefühl für die Kinder und unsere Familiensituation ziehen. Diese verändern sich über die Zeit.

 

Die einzig unumstößliche Grenze

Grundsätzlich endet Selbstbestimmung und persönliche Freiheit immer dort, wo die persönliche Freiheit eines anderen beginnt. Diese eine Grundregel reicht eigentlich für das gesamte Familienleben. Doch so einfach sie klingt ist sie leider nicht umzusetzen:

 

Ich habe selbstverständlich nicht die Freiheit jemand anderen zu verletzten (körperlich wie auch psychisch) oder seine Besitztümer zu zerstören – soweit ist die Sache für alle leicht zu verstehen. Schwierig wird es, wenn beispielsweise klar ist, dass wir Beleidigungen als verletzend empfinden und deshalb niemanden beleidigen.

 

Aber es kann durchaus sein, dass Themen, die in unserer Familie selbstverständlich besprochen werden andere Menschen beleidigen oder verletzten. Bei uns wird offen und ehrlich über alles gesprochen, während es in anderen Familien Tabu-Themen gibt und vielleicht bestimmte Personen oder Handlungen nicht in Frage gestellt werden. Da kann es durchaus vorkommen, dass die Kinder gefühlte Grenzen anderer Personen übertreten. Ist das nun ein Fall, wo sie lernen müssen ihre persönliche Freiheit dem anderen zuliebe einzuschränken? Oder dürfen sie wie gewohnt ihre Neugier etc. ausleben, auch wenn es andere Personen möglicher Weise triggert? (Ein Trigger ist ein Wort/Verhalten/ etc. auf welches wir heftig reagieren, weil es tiefere unbeabeitete Themen in uns weckt.) Schwierig...

 

Ein anderes Beispiel ist der Umgang mit Zeit und Kraft von anderen Personen. Ich bin liebend gerne mit meinen Räuberkindern zusammen, aber sie haben gefühlt einfach mehr Energie als ich. Außerdem haben sie Spaß an anderen Dingen als ich und wenn ich ihnen zuliebe mitspiele etc., so bringt es mich irgendwann an einen Punkt, an dem ich nicht mehr will oder nicht mehr kann – das ist meine persönliche, von der Tagesform abhängige Grenze, die für meine Kinder leider unsichtbar ist. Sie lieben mich einfach nur unglaublich intensiv und freuen sich natürlich, wenn ich mit ihnen mitmache. Oft könnten sie 24h pro Tag mit mir zusammen sein und können mein Bedürfnis nach Zeit für mich und anderen, Kinder-ungeeigneten (bzw. in meinem Tempo ausgeführten) Aktivitäten nicht nachfühlen. Müssen sie ihre Selbstbestimmung vorsorglich einschränken um meine Grenze bzw. eben die anderer Menschen nicht zu übertreten?

 

Solche Punkte empfinde ich als herausfordernd in der Selbstbestimmung-Problematik. Ganz einfach weil es unheimlich schwer ist solche persönlichen Grenzen zu erkennen. Wir großen Menschen sind diesen Blick auf unsere eigenen Bedürfnisse und Befindlichkeiten sowie unsere Verantwortung für uns selber größtenteils nicht gewöhnt und können deshalb unsere persönlichen Grenzen nur schwer vorhersagen und kommunizieren bevor es eigentlich schon zu spät ist. Doch auch dies ist wieder ein innerer Lernprozess, den die Kinder zwar anschieben können, aber nicht für uns lösen.

 

Wie wir nun diese Grenze der Selbstbestimmung handhaben? Ich denke es geht darum empfänglich für die Signale anderer zu werden und den Kindern beim Übersetzen zu helfen. Und auch darum an sich selbst zu arbeiten um die eigenen Grenzen bewusst wahren und kommunizieren zu können – um einerseits selbst nicht über seine Grenzen gehen zu müssen (was oft entweder in unnötiger Erschöpfung oder Wut endet) und um andererseits ein gutes Vorbild im Grenzen kommunizieren aber auch erkennen zu werden. Denn ich wünsche mir, dass meine Kinder nicht nur immer besser die Grenzen anderer Menschen wahrnehmen können sondern unbedingt auch ihre eigenen sehen und ernst nehmen. Beides zusammen hilft nicht nur diese Thematik aus allen Perspektiven erleben, erspüren und verstehen zu können sondern auch das eigene Leben an inneren Bedürfnissen statt an äußeren Erwartungen auszurichten.

 

Auf dem Weg dahin reden wir immer wieder über dieses Thema und versuchen, so authentisch wie möglich mit den Kindern über unsere Grenzen aber auch die erahnten Grenzen anderer Menschen zu sprechen. Und wir akzeptieren, dass die Kinder (und wir!) hier eben noch auf einem Weg sind und Fehler machen werden - diese Fehler helfen ihnen und uns weiter, anstatt ein Zeichen zu sein, dass hier etwas schief läuft (und oh ja, damit konstruktiv umzugehen ist oft leichter gesagt als getan).

 

Weiche Grenzen, die sich nach und nach verändern

Die zweite Art von Grenzen in unserer Familie orientiert sich nicht daran, wo Selbstbestimmung andere Menschen berührt, sondern an unseren Vorstellungen von einer gesunden, glücklichen Kindheit sowie einem harmonischen Familienleben. Wir empfinden es augenblicklich so, dass wir eine Verantwortung haben unsere Kinder vor Dingen zu schützen, die sie bisher nicht gut manövrieren können. Natürlich möchten wir eigentlich auch in schwierigeren Themen eigene Lernerfahrungen und Selbstbestimmung ermöglichen, die Kinder also lieber gut begleiten statt sie vor etwas zu beschützen.

 

Aber wir Eltern haben nur begrenzte Gedulds- und Kraftreserven und wir alle leben in einem Umfeld, in welchem kindliche Selbstbestimmung unheimlich schwierig ist – die Schule erwartet ausgeschlafene und leistungsfähige Kinder, Süßigkeiten lassen uns unbewusst nach „mehr, mehr, mehr“ verlangen und Kinderfernsehen ist voller Werbung sowie insgesamt so gestaltet, dass der nächste Teil der Serie einfach unglaublich verlockend ist.

 

Ich bin mir bewusst, dass selbst weiche Grenzen zwar für mich der leichtere Weg sind, auf welchem die Kinder aber nicht viel Selbstbeherrschung und verantwortungsvolles Handeln lernen können. Auch weiß ich, dass ein Teil meiner Bedenken eher alte Glaubenssätze als reale akute Gefahren sind: eine Weile zuviel Medien oder Süßigkeiten in guter Begleitung durch uns Eltern wird vermutlich nicht nachhaltig schaden. Sie bietet aber die Chance darauf, dass meine Kinder diese Dinge besser manövrieren lernen als viele von uns Elterngeneration es gelernt haben. Aber ich fühle mich derzeit nicht in der Lage drei zum Teil sehr herausfordernd intensive Kinder zu jeder Tages- und Nachtzeit so gut zu Begleiten, dass sie die nötige Unterstützung bekommen diese Herausforderungen zu meistern. Und so sind unsere Grenzen/Regeln für mich eine Übergangslösung.

 

Das sieht beispielsweise so aus:  Wir begrenzen momentan insbesondere den Medienkonsum und Süßigkeiten. Aber auch in Bezug auf Schlafenszeiten und ein paar andere Dinge lassen wir die Kinder (noch?) nicht völlig selbst bestimmen:

 

So gibt es beispielsweise wieder Schlafenszeiten bei uns. Gewissermaßen „weiche Schlafenszeiten“, denn sie werden nicht von der Uhr sondern von unserem Gefühl für die Müdigkeit der Kinder bestimmt. Und sie sind nicht verpflichtend: wir machen es den Kindern leicht mit einer immer gleichen Abfolge bis zum Vorlesen im Bett anzukommen – einen gemeinsamen Kuschelmoment, welchen wir alle sehr genießen. Danach wird idealer Weise einfach Leicht ausgemacht, gesungen, gekuschelt und geschlafen.

 

Aber wenn jemand überhaupt nicht müde ist, setzten wir uns über diese Einschätzung des Kindes nicht einfach hinweg und zwingen es im Bett zu bleiben. Wir reden darüber und empfehlen oft ein leises Einkuscheln solange die Geschwister einschlafen (wobei derjenige oft auch einschläft). Wir akzeptieren aber auch, wenn das Kind definitiv zum leise Spielen aufstehen möchte. Natürlich entspricht es nicht unserem Bild eines idealen entspannten Abend. Aber unsere Kinder sind nicht auf der Welt um für unsere Entspannung zu sorgen. Und ich sehe keinen Grund, warum mein Bedürfnis nach abendlicher Entspannung wichtiger sein sollte als ein kindliches Bedürfnis nach Gemeinschaft, ein Ruhe spielen etc..

 

Mit unserer Prinzessin klappen gemeinsame Abende wunderbar – sie weiß, dass wir durchaus gerne noch eine Runde extra mit ihr spielen oder malen, dann aber auch gerne für uns sind. Sie hört dann beispielsweise über Kopfhörer ein Hörspiel, malt und genießt unseren ruhigen Abend ebenfalls. Die Räuber üben es noch ruhige Abende mit uns zu genießen und brauchen oft sehr viele Erinnerungen daran, dass wir Eltern eigentlich in Ruhe etwas für uns machen wollen. Doch ich bin mir sicher, dass sie es mit der Zeit ebenso lernen werden, wie ihre große Schwester. Und dann bringen wir ein oder zwei Stunden später ein glückliches Kind in´s Bett, welches völlig erfüllt von der Spezialzeit mit uns Eltern sowie ganz schön müde schnell und glücklich einschläft - dass ist so viel schöner als ein abendlicher Machtkampf am Bett.

 

Ein anderes Beispiel sind Süßigkeiten: meine Prinzessin hat eigene Süßigkeiten und kann damit sehr gut haushalten. Wir haben sie bewusst darin begleitet und reden nun einfach darüber, wenn wir das Gefühl haben sie nascht ein wenig viel. Das klappt sehr gut. Aber die beiden kleineren Räuber naschen bisher meist alles auf einmal weg und sind dann deutlich negativ beeinflusst von zuviel Zucker. Ich habe noch keine gute Lösung gefunden ihre Selbstkontrolle bzw. ihre Bewusstsein für diese Thematik zu stärken, weil sie zu zweit einfach anders damit umgehen als die Prinzessin vor ein paar Jahren als einziges größeres Kind. Und so behelfen wir uns mit zugeteilten Süßigkeiten auf Nachfrage der Kinder solange es unser Familienleben vereinfacht und wir noch mit anderen, akut wichtigeren Lernprozessen beschäftigt sind. Denn besonders diese Grenzen schonen derzeit einfach meine Kräfte und von einer entspannteren Mama profitiert das gesamte Familienleben. Nach und nach werden wir uns aber auch diesen Themen widmen, die Kinder gut dabei begleiten und ihnen so noch mehr Selbstbestimmung ermöglichen.

 

Absolute Selbstbestimmung mag für manche Eltern im Sinne des unerzogen-Konzeptes ein unumstößliches Recht jedes kleinen Menschen sein. Ohne gute Begleitung durch die Eltern ist sie in meinen Augen jedoch nicht unbedingt immer im Sinne des Kindes bzw. förderlich für ein relativ harmonisches Zusammenleben: Kinder suchen nicht nur Selbstbestimmung, sie suchen auch Orientierung in einer unübersichtlichen Welt und Schutz.

 

So wie auf den Bildern zu diesem Beitrag: wir waren im Wildgehege und meine Kinder durften dort sehr viel. Auch weiter weg alleine über den eiskalten Bach balancieren obwohl ich im Zweifelsfall nicht hätte eingreifen können - dann hätte ein nasses Kind bis zum Auto laufen müssen. Aber auf den vereisten See durften sie eben nicht - weil das wirklich gefährlich sein kann. Und sie haben sich daran gehalten, weil es eben nicht nur eine Grenze aus meiner Bequemlichkeit heraus ist. Auch Kinder verstehen, dass manche Grenzen unumstößlich sind, während in anderen Beziehungen durchaus Verhandlungsspielraum besteht.

 

Ich glaube sehr viele Eltern gehen da in die richtige Richtung auf ihre Kinder zu - einige schneller und andere langsamer. So lange wir jedoch in die richtige Richtung gehen, handeln wir im Interesse unserer Kinder und sollten uns einfach weiter bemühen anstatt uns darüber zu ärgern, dass wir nicht augenblicklich 100%ige Selbstbestimmung in dieser schwierigen Umwelt bieten können.

 

Gibt es in deiner Familie Regeln und Grenzen?

Und was ist deine größte Herausforderung bezüglich der Selbstständigkeit deiner Kinder?

 

Warum Selbstbestimmung bei uns trotz sehr vieler Freiheiten (noch) Grenzen hat und welche das sind.

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Kommentare: 2
  • #1

    Jasmin (Samstag, 24 Februar 2018 14:45)

    Vielen Dank für den tollen Artikel. Ich sehe das Thema Grenzen wie Du. Selbstbestimmung überall wobei möglich ist, aber Grenzen wo es gefährlich wird oder andere verletzt. Auch weiche Grenzen gibt es bei uns beim Medien und Süßigkeiten Konsum. Ohne Grenzen wird das bei uns maßlos.
    Meine Große Tochter fordert allerdings klare Regeln ein. Sie fühlt sich damit sehr wohl. Auch genießt sie das Regelwerk ihres Kindergartens und fügt sich gerne in die dortige Gemeinschaft. Bei der kleinen Tochter sind Regeln weniger beliebt und sie setzt sich gerne darüber hinweg, was Tochter No. 1 richtig in Empörung versetzt.
    Meine Selbstbestimmung stelle ich allerdings oft noch zurück und achte zu wenig auf mich. Deinen Artikel werde ich zum Anlass nehmen, das zu verbessern. Danke.

  • #2

    Maria (Dienstag, 27 Februar 2018 09:48)

    Liebe Jasmin,
    Danke für deinen lieben Kommentar!
    Ich finde es spannend, dass du das Gefühl hast deine große Tochter braucht Regeln und die kleine nicht so sehr - schön, dass du sie so genau beobachtest. Wir Menschen sind eben unterschiedlich und nicht jeder funktioniert gleich gut, zum Glück :-)
    Der Punkt, dass meine Selbstbestimmung gewissermaßen doppelt hilfreich für die Kinder ist (Vorbild im gut für sich sorgen aber auch tägliche Trainingsmomente im andere Bedürfnisse akzeptieren), ist mir erst in letzter Zeit so richtig deutlich geworden. Seitdem ich darauf achte (ich bin auch eher der "alles für die Kinder"-Typ), ist unser Leben aber nochmals deutlich entspannter bzw. auch für mich schöner geworden. Probiere es unbedingt aus, es lohnt sich!
    Viele Grüße,
    Maria