Schulabschlüsse, Zukunftschancen und staatliche Kontrolle - Was gegen das Freilernen spricht Teil 2

 Stellen wir uns einmal vor, meine Prinzessin wäre jetzt nicht eingeschult sondern dürfte freilernen (d.h. selbstbestimmt ihre Tage verbringen und sich auf der Basis ihrer eigenen Interessen bilden). Damit würde sie nicht alleine dastehen. So lernen laut Schätzungen beispielsweise 4% der amerikanischen Kinder (USA) zuhause und in außerschulischen Lerngruppen (allerdings ist nur ein Teil dieser Homeschooler Unschooler, d.h. Freilerner). Auch in vielen anderen Ländern steigt sie Zahl der Freilerner/ Homeschooler. In Österreich sind beispielsweise etwa 2500 Kinder als Homeschooler gemeldet und für Frankreich gehen Schätzungen von etwa 20.000 Kindern aus. Selbst in Deutschland soll es etwa 1000 bis 3000 Freilerner geben. Doch hier ist es verboten. Warum? Nachdem ich die Fragen nach der Sozialisation, Angst vor Parallelgesellschaften und Chancengleichheit diskutiert habe, soll es hier nun um Schulabschlüsse für Freilerner und deren Zukunftschancen gehen sowie um Formen der staatlichen Kontrolle:

 

(Quellen für diese Zahlen: Fraser Institute Canada: Vom Extremen zum Anerkannten”, Freie Presse, U. Kuhr: "Ohne Wecker und Stundenplan in der Schule des Lebens", Persönlicher Kontakt zur Freilerner-Solidargemeinschaft)

Lernen Freilerner überhaupt etwas?

Viele Menschen haben ein Bild von unmotivierten Schülern und faulen Studenten im Kopf. Wieso sollten diese Kinder und Jugendlichen freiwillig etwas lernen? Und wie sollen Eltern ohne entsprechendes Fachwissen und ohne pädagogische Ausbildung ihre Kinder unterrichten können?

 

Gegenfrage: Braucht es pädagogisches Lehrpersonal, damit Kinder Laufen und Sprechen lernen? Haben wir Erwachsenen unsere PC-Kenntnisse alle auf die gleiche Weise von staatlich zugelassenen Lehrkräften erhalten? Muss man einen Babypflege- und Kindererziehungskurs absolvieren, bevor man sich um ein Kind kümmern kann?

 

Kinder kommen auf die Welt und lernen, lernen, lernen. Aus dem relativ hilflosen Neugeborenen wird ein neugieriges Baby, ein lebenshungriges Kleinkind, ein wissensdurstiges Kindergartenkind, ... Sollte die Natur diesen Lerneifer, diesen Drang die Welt zu verstehen und diesen starken Willen sich in der Gesellschaft nützlich zu machen tatsächlich mit ca. 6 Jahren abstellen? Freilerner sind davon überzeugt, dass alle Menschen lebenslang genau das lernen können, was sie brauchen und was sie interessiert. Und das wir alle ständig gerne und freiwillig dazulernen, solange das Lernen Leben, Mittel zum Zweck oder selbstbestimmtes Spiel bleiben darf (ein großartiges Buch dazu: P. Gray: "Befreit lernen - Wie Lernen in Freiheit spielend gelingt" *).

 

Unsere persönliche Erfahrung ist, dass vielbeschäftigte Kinder wenig Zeit haben Fragen zu stellen, ihre eigenen Probleme zu lösen und kreativ zu sein. Seitdem unsere Kinder nicht mehr in die KiTa gehen und kam noch an erwachsenen-gesteuerten Freizeitaktivitäten teilnehmen, hat sich viel geändert: nach einer anstrengenden Umgewöhnungsphase wurden sie viel selbstständiger, neugieriger und kreativer. Sie stellen Fragen und beschäftigen sich mit spannenden Gedanken und Materialien, sie spielen Erlebtes nach und zeichnen ihr Verständnis der Welt - sie lernen ganz nebenbei und sehr effektiv viel Schulisches und Lebenspraktisches.

 

Und ich habe gelernt, genau das möglichst unsichtbar zu fördern. So biete ich ihnen lieber offene Einladungen als fest definierte Bastelaktionen. Ich nehme mir bewusst Zeit Neugier und Interesse selbst auszuleben und mit ihnen zu genießen, indem wir beispielsweise Fragen diskutieren, in Büchern nachschlagen oder passende YouTube-Videos anschauen. Außerdem sorge ich für vielfältige Anregungen: Ausflüge und Bibliotheksbesuche, unter fremde Menschen kommen und unbekannte Orte erkunden sowie viel Zeit in der Natur. Freilernen heißt nicht, ein Haufen Bücher und Lehrmaterialien zu besorgen und die Kinder diese durcharbeiten zu lassen. Und es ist definitiv nicht immer einfach täglich intensiv Zeit mit den Kindern zu verbringen. Vielmehr braucht es meiner Meinung nach gerade bei jüngeren Kindern sehr viel Elterneinsatz um eine anregende Umgebung zu schaffen und inspirierende Erfahrungen zu ermöglichen. Aber genau dieses intensive miteinander Zeit verbringen und aneinander sowie nebeneinander spielen, lernen und wachsen, macht diesen Lebensstil so attraktiv für unsere Familie.

 

Und nicht nur für uns. In fast allen Ländern wächst die Zahl der Freilerner-Familien und immer mehr wissenschaftliche Untersuchungen widmen sich dem Thema. Und sie zeigen, dass diese Art des Lernens nicht nur funktioniert sondern "dass zuhause ausgebildete Schüler ihre Altersgenossen in einer Vielfalt von Prüfungen  übertreffen" (Fraser Institute Canada: Vom Extremen zum Anerkannten”).

 

Und was ist mit Schulabschlüssen und Zukunftschancen?

Dort, wo Homeschooling Teil der Bildungslandschaft ist, finden die ehemaligen Freilerner auch Studienplätze. Einige amerikanische Universitäten scheinen sie sogar sehr gerne anzunehmen, weil diese zukünftigen Studenten besonders viel Eigeninitiative und Lerneifer mitbringen. So sagte ein Freilerner-Vater im Deutschlandfunk: "Aus Amerika weiß ich, dass die Universitäten mittlerweile Scouts losschicken, die Homeschooler werben für die Universitäten, weil die 'ne andere Vorgehensweise, Methodenarbeit haben an Lernstoff ranzugehen und an Projekte ranzugehen. Und das würde ich mir für Deutschland wünschen, das würde einen unheimlichen Schub geben, glaube ich, in der Entwicklung, auch wirtschaftlich gesehen müssten wir dann nicht so viel Innovation von außen holen" (Deutschlandfunk: Freilerner - Leben ohne Schule). Dies bestätigen auch wissenschaftliche Untersuchungen: "Die wohlwollende Haltung höherer Schulen gegenüber der zuhause ausgebildeten Schüler ist eine Anerkennung, dass sie “gewisse Fähigkeiten mit sich bringen – Motivation; Neugier; die Fähigkeit, selber Verantwortung für ihre Ausbildung zu übernehmen -, die von den Sekundarschulen nicht sehr gut vermittelt werden” (Jon Reider, Aufnahmebeamter der Universität Stanford, zitiert in Clowes, 2000). Damit zusammenhängend, sind zuhause ausgebildete Studenten zu sehr gesuchten Rekruten für die Streitkräfte geworden" (Fraser Institute Canada: Vom Extremen zum Anerkannten”).

 

Aber auch in Deutschland stellen Schulabschlüsse dank der Externenprüfungen an deutschen Schulen sowie dank Fernschulen, beispielsweise der Clonlara-School (Highschool-Abschlüsse für Homeschooler weltweit, deutschsprachiges Programm) kein Problem dar. Bekanntere Beispiele für deutsche Freilerner mit Abitur sind beispielsweise Esra Reichert und Moritz Neubronner - absolut lesenswert beschreibt Esra Reichert seinen Weg zum Abitur hier. Eine andere Möglichkeit ist es, über eine Ausbildung oder auch direkt mit arbeiten zu beginnen. Den letztendlich stehen Freilernern ebenso wie allen anderen jungen Erwachsenen viele Wege offen. Und so wie sie bei einigen Arbeitgebern vielleicht Probleme haben könnten, dürfte auf andere der interessante Lebenslauf gerade attraktiv wirken.

 

Staatliche Kontrolle und Schutz der Kinder

Vielleicht kann man jetzt argumentieren, dass natürlich nicht in allen Familien optimale Bedingungen herrschen. Und dass die Schulpflicht ein Kontrollmechanismus ist, der allen Kindern eine gesellschaftliche passende Sozialisation und Bildung ermöglichen soll. Und dass tägliches Erscheinen in der Schule eben auch dafür sorgt, dass  Missstände in Familien erkannt und Kinder davor geschützt werden können. Darf man im Interesse der Kinder diese Kontrolle lockern?

 

Ich denke wir reden hier über völlig unterschiedliche Dinge. Es gibt Familien in so schwierigen Situationen, dass die Kinder davor besser geschützt (oder zumindest darin begleitet) werden müssen. Und da hilft es natürlich, wenn externe Personen diese Kinder zu Gesicht bekommen und notfalls eingreifen zu können. Aber ich will die Schulen doch auch garnicht abschaffen. Ich finde es aus oben genannten Gründen sogar genau richtig, dass der normale Weg die Schule ist. Auch wenn es da in der Gestaltung dieser kindlichen Lebenswelt sicherlich viel Verbesserungspotenzial gibt.

 

Auf der anderen Seite gibt es aber die Familien, die mehr für ihre Kinder wollen. Familien, die für ihren Alltag und/oder das Lernen der Kinder mehr Freiheit und Selbstbestimmungsrechte wollen. Familien, die einen Ausweg suchen, weil ihre Kinder in den großen und lauten Klassen, unter dem sozialen Druck und den hohen Leistungsanforderungen gestresst und krank werden. Familien die nicht wollen, dass die Kinder lernen sich unterzuordnen und alles widerspruchslos hinzunehmen, was jemand anders für sie vorgesehen hat. Familien, die miteinander leben wollen und die Kindheit ihrer Kinder intensiv mit diesen erleben wollen anstatt nur nebeneinander zu leben. Und Familien, welche die Neugier, den Forscher- und Entdeckerdrang der Kinder fördern statt im fremdbestimmten Lehrplan ersticken wollen. Kann man das verbieten, nur weil man Eltern/ Familien unter Generalverdacht stellt? Sollte man nicht besser an wirksameren Vorbeuge- und Kontrollmechanismen zum Schutz aller Kinder arbeiten?

 

In Anlehung an die Regelungen vieler unserer Nachbarländer könnte man Freilernen beispielsweise auf Antrag erlauben. Diese bürokratische Hürde soll verhindern, dass Familien sich nur "weil es der leichtere Weg ist" (kein frühes Aufstehen, keine Hausaufgaben, ...) dafür entscheiden, ohne den Kindern entsprechenden Input und Lernanreize zu bieten. Und am Ende jedes Schuljahres könnten beispielsweise Fortschritte in Deutsch und Mathe (als Kernfächer) getestet oder über Lernprotokolle der Eltern abgefragt werden. Außerdem vielleicht ein Bericht über Lernaktivitäten, so wie die Clonlara-School (eine weltweite Fernschule) beispielsweise für den US-amerikanischen HighSchool-Abschluss von Sport über Handwerkliche Arbeiten bis hin zu Wissenschaftlichen Interessen sehr vieles als Nebenfächer anrechnet.

 

In vielen Ländern sehen die Bestimmungen außerdem entweder Besuche in den Familien oder mindestens einen Besuch der Kinder in der zuständigen Schule etc. vor. Auch dies ist sicherlich ein Kontrollinstrument, um zumindest einen Eindruck über das Wohlergehen der Kinder zu erlangen. Ob diese ungewohnte Situation die Kinder "normal" agieren lässt ist ungewiss. Auf der anderen Seite bleiben selbst beim Schulbesuch der Kinder immer wieder Probleme unerkannt. Vielleicht sollten die Familien lieber eine aktive Vereinsmitgliedschaft, Musikschulbesuch oder ähnliches nachweisen - dass lässt sich leicht belegen (und damit leicht kontrollieren), familienfremde Erwachsene sehen das Kind regelmäßig und es ist sichergestellt, dass die Kinder sich auch außerhalb der Familie bewegen lernen (Stichwort Sozialisation).

 

Prinzipiell finde ich es gut, wenn der Staat versucht das Wohlergehen aller Kinder sicher zu stellen. Doch ich halte die Schule nicht für die einzig denkbare Lösung. Sobald man einmal über den Tellerrand hinaus schaut, sieht man in unseren Nachbarländern verschiedene Lösungen und kann sich gewissermaßen die sinnvollsten Konzepte heraussuchen. Je freiheitlicher die Eltern ihre Kinder lernen lassen wollen desto weniger erwünscht sind lehrplanähnliche Lernerfolgskontrollen, doch selbst diese würde vermutlich viele Familien in Kauf nehmen um ihren Kindern und ihrem Familienleben mehr Freiheit zu erwirken.

 

Wir verbieten doch trotz schwerer Unfälle nicht generell das Autofahren. Stattdessen versuchen wir, diese individuelle Freiheit für alle so sicher wie möglich zu gestalten. Warum schaffen wir es als eines der wenigen Länder nicht, auch an die Bildung individuell und gewissermaßen erlaubend aber wachsam heranzugehen?

 

Fazit zur Kritik am Freilernen

Egal ob man Fragen der Sozialisation, Angst vor Parallelgesellschaften und Chancengleichheit diskutiert oder den Lernerfolg und die Zukunftschancen der Kinder und Jugendlichen betrachtet, ich sehe keine generellen Nachteile eines Lebens ohne Schule. Und solange davon auszugehen ist, dass nur ein sehr geringer Anteil der Familien diese aufwendige Form der Bildung für ihre Kinder wählen würden und sie somit gewissermaßen in Konkurrenz zu einer weiteren "Sorte" privater Beschulung/Bildung stehen, sehe ich auch keine strukturelle Veränderung im Bildungssystem - welche sicherlich vielen Menschen Angst macht.

 

Vielmehr sehe ich eine Chance für Kinder und Familien ein selbstbestimmtes und freieres Leben zu wählen als es der derzeitige "Schulgebäude-Anwesenheitszwang" zulässt. Wie dies konkret aussehen kann, dass zeigen Familien in anderen Ländern, welche bereits diesen Lebensstil genießen dürfen. Und das zeigen aktives Vereinsleben und vielfältige außerschulische Bildungsangebote von privaten Treffen über Naturparks, Museen und Bibliotheken hin zu schulähnlichen Kursen, welche nach Interesse der Kinder besucht werden können - alles in Gegenden mit vielen Homeschoolern zu finden (z.B. USA, Australien, England).

 

Und wer dies für ein gewagtes Experiment mit unklarem Ausgang für die jeweiligen jungen Menschen als auch die Gesellschaft hält, der kann ebenfalls auf die Erfahrungen aus Staaten mit langjährigem Homeschooling schauen. Die meines Wissens größte Studie zum Leben erwachsener Homeschoolabsolventen "Homeschooling grows up" (die deutschsprachige Zusammenfassung "Homeschooling wird erwachsen") sollte den verschiedensten Bedenken empirische Fakten entgegensetzen. Auch aus Kanada kommt eine derartige Studie vom Canadian Centre for Home Education: "Fifteen Years Later: Home-Educated Canadian Adults". Beide Studien zeichnen ein Bild von überdurchschnittlich gut ausgebildeten und mehrheitlich zufriedenen Erwachsenen, welche zum allergrößten Teil ihren Kindern ebenfalls Bildung zuhause ermöglichen würden.

 

Warum nehmen wir also die Erklärung der Menschenrechte nicht beim Wort und stellen sicher, dass "die Eltern das vorrangige Recht haben, die Art der Ausbildung zu wählen, die ihren Kindern zuteil werden soll” (Artikel 26 (3), Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen)? Warum dürfen nicht auch deutsche Eltern Teil der "blühenden erzieherischen Bewegung" sein, als welche das Fraser Institute (Fraser Institute Canada: Vom Extremen zum Anerkannten”) Homeschooling beschreibt? Warum gehen wir trotz Rüge durch die UN (z.B. im Bericht des UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung Vernor Muñoz vom 21. Februar 2006, zusammengefasst auf Wikipedia) weltweit gesehen einen solchen Sonderweg?

 

Du möchtest etwas ergänzen, fragen oder anders darstellen? Ich freue mich sehr über Kommentare. Dieser Artikel soll zum diskutieren und vielleicht auch umdenken anregen. Vielleicht kommen wir so einer Gesetzesänderung in Deutschland näher.


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