Sozialisation in Gefahr? - Was gegen das Freilernen spricht Teil 1

Das Leben als Freilerner ist ja ganz spannend, aber wird in Deutschland aus gutem Grund verboten sein? Oder die Idee, Kinder selbst über ihr Lernen bestimmen zu lassen (= Freilernen/Unschooling), ist genauso absurd wie Hausunterricht/ Homeschooling weil ...? Reden wir doch darüber!

 

Eines der Hauptargumente gegen das Freilernen/ Homeschooling ist die Sorge um die Sozialisation der Kinder. Fehlen den Kindern nicht die Sozialkontakte? Und können sie überhaupt als Kind und auch später als Erwachsene in unserer Gesellschaft funktionieren? Bilden sich dadurch nicht Demokratie-gefährdende Parallelgesellschaften? Und was ist mit der Chancengleichheit für sozial Schwächere, wenn sich die bildungsnahen Familien ausklinken?

 

Was ist eigentlich Sozialisation?

Sozialisation ist Anpassung an die Gesellschaft mit ihren Normen und Wertvorstellungen. "Im Zentrum steht die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit sowie der sozialen Beziehungen einer Person. Zur Persönlichkeit gehört einerseits die Individualität, die den Einzelnen von allen Anderen unterscheidet, andererseits die Intersubjektivität, die die Mitglieder einer Gesellschaft oder Gemeinschaft miteinander teilen (z. B. Werte, Normen, soziale Rollen)" (Wikipedia).

 

Ohne Sozialisation ist ein gesellschaftliches Zusammenleben sehr schwierig. Denn "gelungene Sozialisation versetzt das Individuum einerseits in die Lage, bestehende Werte und Normen zu erkennen und zu akzeptieren – andererseits die Normen und Werte auch reflektierend in Frage zu stellen" (Wikipedia).

 

Gleichzeitig machen diese Zitate deutlich, dass eine "erfolgreiche Sozialisation" keine Assimilation in die Gesellschaft ist und das Sozialisation natürlich nicht bedeutet, die eigene Persönlichkeit zugunsten der Gesellschaft aufzugeben. "Die „Sozialisation“ sucht also nach der ausgeglichenen Waage zwischen dem „Sein wie alle Anderen“ und dem „Sein wie kein Anderer“. Anpassung an das Sein wie alle Anderen wird vor allem in altershomogenen Gruppen erstrebt, also im Messen an

den Gleichaltrigen und ggf. Gleichartigen (speziell entsprechend der jeweiligen sozialen Schicht). Die Entwicklung des Individuellen, Persönlichen, Einzigartigen, also des „Seins wie kein Anderer“ wird

nachweislich durch die Zwangserziehung in altershomogenen Gruppen eher unterdrückt, behindert ggf. sogar bis zur Persönlichkeitsstörung deformiert" (Prof. Franco Rest: Brauchen Kinder den täglichen mehrstündigen Aufenthalt in einem Raum mit einer Klasse / Gruppe anderer Gleichaltriger, um sich gesund zu sozialisieren?).

 

Wenn wir uns also Sorgen um die Sozialisation freier Kinder (egal ob KiTa- oder schulfrei) machen, geht es vor allem darum, ob diese Kinder (und später Erwachsenen) in der Gesellschaft funktionieren können oder ob sie vielleicht nicht außreichend Werte, Normen und Umgangsformen verinnerlicht haben. In Bezug auf die Lebenswelt der Kinder fragen wir also nach ihren Sozialkontakten.

 

Macht Freiheit einsam?

In einem Umfeld, in dem alle Kinder zur Schule gehen, ist ein schulfrei aufwachsendes Kind wohl sehr allein. Ähnliches erleben wir im Leben ohne KiTa: vormittags und am frühen Nachmittag sind Spielplätze etc. nahezu ausgestorben. Und in der wenigen verbleibenden Freizeit sind viele Kinder schon mit Terminen fest verplant. Das bedauern wir sehr und wünschen uns mehr Familien, die ganztags Zeit für Treffen und Ausflüge haben. Es könnte so aussehen wie in Gegenden mit vielen Homeschooling-/Unschooling-Familien: privat organisierte Treffen und Ausflüge sowie Museen, Sportvereine und Bibliotheken welche Angebote für Homeschooler machen. Einfach ein buntes und anregendes Sozialleben mit anderen Kindern, hinzugezogenen Experten und interessierten Eltern.

 

Doch selbst ohne solch ein Netzwerk sehe ich das kindliche (und elterliche) Bedürfnis nach Sozialkontakten nicht in Gefahr. Es erfordert nur mehr Einsatz Vereine und Verabredungen in viel engeren Zeiträumen unterzubringen. Dafür sind wir oft aktiv und unterwegs. So begegnen wir auch sehr vielen Menschen. Menschen unterschiedlicher Altersklassen und sozialer Schichten und verschiedener Berufe. Ich empfinde es auch als Sozialisation, wenn meine Kinder eben nicht nur mit Gleichaltrigen in einem künstlichen Umfeld gut zurecht kommen.

 

Und bringt ein Schulbesuch da tatsächlich Vorteile? Für die Sozialisation der Schulkinder zählen wohl eher die Pausen. Und dann sind sehr viele, zufällig zusammengewürfelte Schulkinder zusammen, dass muss nicht immer gutgehen. Ich selbst haben neben vielen wirklich schönen Erfahrungen z.B. auch die Erfahrung gemacht, dass man Mobbingopfern nicht helfen sollte um nicht selbst Probleme zu bekommen. Und dass Fragen, Meinungen und Interessen sowohl cool als auch lächerlich sein können. Nein, ich glaube nicht, dass schulische Sozialisation für glückliche Kinder notwendig ist.

 

Oder, um es mit den Worten eines deutschen Homeschoolers zu sagen: "Man muss nicht in die Schule gehen, um Freunde zu haben und sozial kompetent zu sein. Die Freundschaften werden eher besser, wenn sie nicht mehr davon diktiert werden, mit wem man wann im selben Klassenzimmer sitzt." Und zum Thema schlechte Erfahrungen aushalten lernen schreibt er: "Aber muss ich wirklich Jahre lang jeden Schultag lernen, dass ich mir im Leben nicht aussuchen kann, mit wem ich meine Zeit verbringe? Das kann ich nämlich. Wer Jahrzehnte lang mit Leuten zusammenarbeitet, die er absolut nicht ausstehen kann, hat irgendwas falsch gemacht" (Esra Reichert: Freilernen und soziale Kontakte – ein Widerspruch?, auf Vom Leben lernen).

 

Auch wissenschaftl Untersuchungen kommen zum selben Schluß: "Entgegen der weitverbreiteten Meinung, zuhause ausgebildete Kinder seien nicht angemessen sozialisiert, weist das Schwergewicht der Untersuchungen auf das Gegenteil hin. Der durchschnittliche zuhause ausgebildete kanadische Schüler nimmt regelmässig an acht sozialen Aktivitäten ausser Haus teil. Kanadische zuhause ausgebildete Schüler sehen viel weniger fern als andere Kinder; und ein Forscher fand, dass sie signifikant weniger Probleme zeigten als Schüler von Staatsschulen, wenn sie im freien Spiel beobachtet wurden" (Fraser Institute Canada: Vom Extremen zum Anerkannten”).

 

Sind Freilerner "gesellschaftstauglich"?

Was werden das für Erwachsene, die nicht gelernt haben sich in einem größeren, fremdbestimmten Umfeld zurechtzufinden, sich unterzuordnen (erst Lehrer, dann Chef), Grundzüge der Demokratie zu lernen und mit fremden Meinungen klarzukommen?

 

Freilernen heißt nicht, die Kinder zuhause einzusperren. Somit haben die Kinder oft sogar viel mehr Chancen zu lernen, sich in der Welt zurechtzufinden - einfach weil sie mehr echte Welt und weniger Parallelwelt in der Schule erleben. Und diese echte Welt hält auch ehrliche andere Meinungen bereit (statt im Zweifel hat der Lehrer recht) und auch echte Demokratie (statt wir wählen einen Klassensprecher aber ein wirkliches Mitspracherecht hat er nicht).

 

Ich glaube nicht, dass ein Mensch lernen muss sich unterzuordnen. Er kann eine Autorität auch freiwillig anerkennen, beispielsweise weil derjenige mehr weiß als er selber. P. Gray beschreibt dieses freiwillige Unterordnen am Beispiel von Absolventen der amerikanischen, demokratischen und völlig freien Sudbury Valley School: "Eine Erkenntnis, die mich damals überraschte, war, dass keiner der Absolventen von Schwierigkeiten berichtete, sich auf die formale Struktur von Universität oder Arbeitsplatz einzustellen. Wenn wir in den Interviews näher darauf eingingen, erzählten uns die Absolventen typischer Weise, dass sie sich selbst dafür entschieden hätten, ihre Ausbildung fortzusetzen oder eine bestimmte Arbeit auszuüben, dass sie ihrer Tätigkeit mit Freude nachgingen und sie die Tatsache verstünden und akzeptierten, dass ihre rebungen mit gewissen zu befolgenden Regeln einhergingen" (P. Gray: befreit Lernen - Wie Lernen in Freiheit spielend gelingt*).

 

Generell fördert Freiheit und Selbstbestimmung selbstbewusste Persönlichkeiten, die sich ihren Weg suchen werden. Eine Momentaufnahme deutschsprachigen Freilerner findet sich beispielsweise bei MyAcademy24. Ein Auszug: "An meinen Geschwistern und mir, sowie an vielen meiner freilernden Freunde habe ich gesehen, dass eine Jugend ohne Schule ausgeglichene, interessierte, und gebildete Menschen hervorbringt" Esra Reichert.

 

In den USA ist die erste Generation moderner Homeschooling-Absolventen im Erwachsenenleben angekommen. Über 7.000 von ihnen wurden für eine große wissenschaftlich Studie der Home School Legal Defense Association (HSLDA) befragt (Homeschooling wird erwachsen - deutsche Zusammenfassung): So setzten 74% (im Vergleich zum Bevölkerungsdurchschnitt von 46%) ihre Ausbildung am College fort und sie arbeiten in einer großen Bandbreite an Berufen. Deutlich mehr Homeschooling-Absolventen im Vergleich zum nationalen Durchschnitt sind gesellschaftlich aktiv und gehen wählen (je nach Altersklasse 76 bis 96% vs. 29 bis 53%). 92% empfinden es als Vorteil zuhause gelernt zu haben und nur 2% sehen sich dadurch eingeschränkt. Und 95% der Befragten sind glücklich darüber, dass sie zuhause unterrichtet wurden.

 

Funktioniert Freilernen nur in bildungsnahen Familien? - Chancengleichheit

Die Bedenken hinsichtlich der Chancengleichheit kann ich sehr gut nachvollziehen, wenn wir gewissermaßen Freilernen als Ausnahme von Schulbesuch zulassen. Denn dieser Weg fordert viel mehr Elterneinsatz. Es steht zu befürchten, dass nur bildungsnahe Familien sich auf diesen Weg machen. Und damit würde die Situation an den Schulen noch schwieriger.

 

Doch einerseits beinhaltet dieser Denkansatzt das Vorurteil, dass bestimmte soziale Schichten sich nicht für ihre Kinder einsetzen würden. Vielfach entsteht soziale Ungleichheit aber erst in der Konkurrenzsituation Schule: "Die vom demokratischen Standpunkt heutigen Gesellschaftsverständnisse her notwendige Aufhebung der Privilegien sozialer Herkunft wird im altershomogenen Klassenunterricht verhindert; die Privilegien werden zementiert. „Personalisation“ vollzieht sich dort ausschließlich in fortwährendem Ablauf von Konflikten, da ausschließlich mittelschichtsorientierte Lebenswelten vermittelt werden (Ausleseverfahren; Begabungsreserven ausschließlich in privilegierten Gesellschaftsschichten vorhanden; Werte von Ordnung, Ruhe, Sicherheit). „Gleichheit“ wird zwar postuliert, aber „Ungleichheit“ praktiziert" (Prof. Franco Rest: Brauchen Kinder den täglichen mehrstündigen Aufenthalt in einem Raum mit einer Klasse / Gruppe anderer Gleichaltriger, um sich gesund zu sozialisieren?).

 

Andererseits besteht die Chancengeichheit sowieso nur auf dem Papier solange es teure Privatschulen gibt, solange Kinder verständlicher Weise nach ihren Stadtvierteln den Grundschulen zugeordnet werden und solange unser Schulsystem als sehr wenig gerecht beurteilt wird (siehe beispielsweise PISA-Studien der OECD, zusammengefaßt bespielsweise bei Wikipedia). Solange ändert eine Offenheit gegenüber dem Freilernen überhaupt nichts.

 

Vielmehr könnte das Freilernen sogar neue Möglichkeiten schaffen: mehrere Studien zeigen, dass "in der Bildung zuhause [...] der elterliche Bildungsstand, das Geschlecht des Kindes und das Familieneinkommen eine weniger starke Beziehung zur akademischen Leistung [haben] als bei Schülern der Staatsschulen." So ergab eine Studie, "dass Schüler, die zuhause ausgebildet wurden von Müttern, die nie die High School (=ungefähr Sekundarschule) beendet hatten, um 55% bessere Ergebnisse erzielten als Schüler von Staatsschulen aus Familien mit vergleichbarem Bildungsstand" (Fraser Institute Canada: Vom Extremen zum Anerkannten”).

 

Stichwort Parallelgesellschaften

Die Angst vor Parallelgesellschaften stützt sich vermutlich darauf, dass Freilernen gerne mit sehr religiösen Familien verbunden wird. Gerade wenn extreme Meinungen vertreten werden und eine Tendenz zur Abschottung vorhanden ist, sollte der Staat dies kontrollieren und die Kinder dazu zwingen, sich auch mit anderen Weltbildern auseinander zu setzen? Doch gerade die verschiedenen Religionen dürfen eigene Privatschulen betreiben. Und ist ein alle unter Generalverdacht stellender Zwang ein probates Mittel, einige wenige kontrollieren zu wollen? So wirkt das Ganze wie ein Verbot aus einer unbegründeten Angst (s. Homeschooling-Erfahrungen in anderen Ländern) heraus. Ohne objektive Analyse der tatsächlichen Gefahr für unsere Gesellschaft und eben auch ohne tatsächliche Gegenmaßnahmen.

 

Wer sich hier weiter einlesen will, dem empehle ich den Artikel "Gespenst Parallelgesellschaft - Bildung braucht pluralistische Freiheit" von Michael P. Donnelly (als pdf-Datei hier). Er definiert Parallelgesellschaften als Verbände innerhalb der Gesellschaft, die beispielsweise die gemeinsame Sprache aufgeben und sich nicht an geltendes Recht halten wollen. Diese Dinge treffen in keiner Weise auf Freilerner zu. Aber wenn aus genau diesen Gründen Freilernen verboten bleibt, dann bleibt die individuelle Freiheit von Kindern/Jugendlichen und Familien eingeschränkt. Jegliche Auswege (Auswandern, Außnahmeregelungen oder ein offizielles Abmelden der Kinder) führen doch erst dazu, dass die Familien sich quasi wie in einer Parallelgesellschaft fühlen.

 

Vorläufiges Fazit

"In den USA und in anderen Ländern haben Homeschooler als soziale Gruppe gezeigt, dass es eine große Bandbreite effektiver pädagogischer Herangehensweisen und Philosophien gibt, die unabhängig von Rasse, Ethnie, Einkommen, sozialer Klasse oder geografischer  Herkunft nebeneinander bestehen können. Homeschooling-Kinder werden von Universitäten und Arbeitgebern gerade deshalb gerne genommen, weil ihnen der Ruf vorausgeht, dass sie sich nicht von anderen absondern, sondern sich gut integrieren können" (M. Donnelly: Gespenst Parallelgesellschaft - Bildung braucht pluralistische Freiheit).

 

Ich glaube jeder Lebensstil hat neben den persönlich relevanten Vorteilen auch ein paar Nachteile. Und wenn der Lebensstil nicht dem Mehrheitsdenken entspricht, dann ist es schwieriger diesen zu leben und auch zu verteidigen - schließlich stellt man damit die Lebensweise der Mehrheit in Frage.  Doch was die Frage der Sozialisation angeht, sehe ich keine gravierenden Nachteile für die jeweiligen Kinder oder auch die Gesellschaft, welche ein Verbot des Freilernens rechtfertigen könnten. Vielmehr sehr ich viele Vorteile und Chancen für die Kinder, Jugendlichen und Familien.

 

 


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