Aus dem Grundschul-Lehrplan: "die Phasen Spielen und Arbeiten unterscheiden"

Hältst du mich für merkwürdig, wenn ich nicht will, dass die Schule meinem Kind die Unterschiede zwischen Spielen und Arbeiten (also im schulischen Sinne Lernen) beibringt?

 

Ich sehe ein wie praktisch es ist, wenn die Lehrkraft sagen kann "Hört auf zu spielen, jetzt ist Arbeitszeit!". Aber was genau bedeutet das für ein Grundschulkind? Und was lernt es für´s Leben?

 

Zuerst einmal das genaue Zitat und die Fundstelle: Im Lehrplan für Heimat-, Welt- und Sachunterricht in der Grundschule des Landes Schleswig-Holstein (Online-Zugang hier) steht im

Unterpunkt Lernentwicklung und Leistungsbewertung (Dokumentseite 116, pdf-Seite 27) folgendes:

 

"Am Ende der Klassenstufe 2
Die Schülerinnen und Schüler sollen
− ein Gefühl für sich selbst und soziale Verantwortung in der Gruppe entwickelt haben
− die Phasen Spielen und Arbeiten unterscheiden und sich in den jeweiligen Lernsituationen danach richten können"

...

 

Grundsätzlich finde ich es schon fast gruselig, dass solch wertende Punkte in den Maßstäben für die Leistungsbewertung aufgeführt werden. Kann und darf man sowas bewerten? Darüber bitte mal kurz nachdenken!

 

"Spiel ist die Arbeit der Kinder" - Spielen ist Lernen für´s Leben

Doch zurück zum Thema Spiel vs. Arbeit. Kennst du den Spruch "Spiel ist die Arbeit der Kinder"? Ich kann ihn leider gerade keinem Autor zuordnen (Hinweise willkommen). Doch ich empfinde ihn als so treffend. Wenn ich an Kinder denke, so kommt mir als deren wichtigste Beschäftigung das Spiel in den Kopf. Ob Spiel mit Bewegung, Spiel mit Farben und anderen Materialien, Spiel mit Spielmaterialien oder Spiel mit Rollenvorstellungen und Figuren aus Geschichten - wo sie auch sind und was sie gerade beschäftigt, der Großteil ihres Lebens ist ein Spiel.

 

Und das ist wunderbar. Denn Spielen ist nicht einfach Zeitvertreib, Spielen hat eine Funktion:

"Spiel ist die Hauptaneignungstätigkeit der Kinder. [...] Im Spiel setzen sich die Kinder schon früh mit ihrer Umwelt auseinander, sie erforschen, begreifen und erobern sich die Welt. [...]  Das  Spiel ist Lernen mit allen Sinnen, mit starker emotionaler Beteiligung, mit geistigem und körperlichem Kraftein­satz. Es fordert und fördert die ganze Person. [...] Der Inhalt des jeweiligen Spiels gibt ihnen die Handlungen, die Art des Verhaltens, der Beziehungen untereinan­der vor. Dadurch entwickeln sie von sich aus körperliche und geistige Anstrengung, Ausdauer und Konzentration, Einfallsreichtum und Flexi­bilität, Sorgfalt und Tempo, Bewältigung von Schwierigkeiten, die Ein­haltung von Regeln. All das fordert sich das Kind im Spiel selbst ab. Es ist für Kinder ein ernstes und wichtiges Tun, ein selbstbestimmtes und ganzheitliches Lernen mit starker emotionaler Beteiligung." (Berliner Bildungsprogramm, S. 38f)

 

Ich für meinen Teil finde nicht, das Kinder mit 6 oder 7 Jahren genug ge-Spiel-Lernt haben. Vielmehr sehe ich an unserer Großen, wie sich ihre Interessen auf immer komplexere Zusammenhänge ausdehnen. Wie sie sich für Geschichte, naturwissenschaftliche Zusammenhänge, Politik und vieles mehr interessiert. Und wie sie die Inhalte unserer Gespräche und ihr neu entdecktes Weltwissen in Spiele und Bilder einbaut. Sie hat nicht genug ge-Spiel-Lernt. Es geht munter und fröhlich weiter und genau das ist kindgerechtes Lernen.

 

Wenn wir nun davon ausgehen, dass Spielen DER kindliche Weg des Lernens und der Beschäftigung mit der Welt ist, warum trennen wir plötzlich Lernen vom Spielen und definieren Lernen als Arbeit (was ja gleich weniger positiv besetzt ist)? Und was löst das Ganze in unseren Kindern aus?

 

Nur eine Frage der Formulierung?

Ich denke dieses Thema ist zu wichtig, um das Ganze als unglückliche Formulierung abzutun. Vielmehr werden immer wieder Stimmer laut (leider nicht laut genug), die genau diese Problematik aufgreifen: wir haben den Wert des Spielens vergessen oder nie gekannt.

 

Dr. A. Krenz beschreibt in seinem Aufsatz: "Das Spiel ist der Beruf des Kindes: das kindliche Spiel als Grundlage der Persönlichkeits- und Lernentwicklung von Kindern im Kindergartenalter" (als pdf bei win-future) die traurige Tatsache, dass in den Bildungsplänen (also der Orientierung für Kindertagesstätten) nur eines der Bundesländer explizit den Wert des Spielen herausstellt (nämlich Berlin, Zitat oben). Ansonsten ginge es zwar sehr viel um Frühförderung und Lernchancen für die Kinder aber eben nicht um das Spielen der Kinder als ureigene kindgerechte Lernmethode. So schließt der Aufsatz mit einen Zitat von Dr. Rainer Dollase: „Nationale und internationale Ergebnisse zeigen: schulisches Arbeiten ist für die Kleinen offenbar nicht die optimale Bildungsförderung – das gilt für den Alterszeitraum fünf bis sieben. Spielerisches, situationsbezogenes Arbeiten , also eine klassische Kindergartenarbeit, ist die beste Schulvorbereitung, die wir anbieten können.“

 

Und wenn es nach mir geht, gibt es keine Grund die "Spielzeit" nur bis in das siebte Lebensjahr anzusetzten. Denn in diesem Jahr passiert keine grundlegende Veränderung im Spiel damit Lernverhalten des Kindes. Sicher, meine Tochter hat beispielsweise im letzten Jahr begonnen freiwillig immer längere Zeiten konzentriert beim Malen und Schreiben am Tisch zu verbringen. Aber nicht einmal 45min am Tag (statt mehrmals dieser Zeit) und auch nicht täglich. Seien wir doch einfach mutig und reden darüber, ob P. Gray in seinem Buch "Befreit Lernen - Wie Lernen in Freiheit spielend gelingt"* nicht recht hat. Er beschreibt die Jugendzeit als eine Zeit, in der die Kinder und Jugendlichen sich mithilfe ihrer Neugier, ihres Spieltriebes und ihrer Geselligkeit alle für ihr Leben notwendigen Fähigkeiten aneignen wollen.

 

"Von Geburt an brennen Kindern darauf zu lernen, und sie sind dafür genetisch hervorragend ausgestattet. Sie sind kleine Lernmaschienen. Ohne jede Unterweisung saugen Kinder etwa bis zum fünften Lensjahr eine unfassbare Menge an Informationen und Fähigkeiten auf. [...] All dies wird von ihren angeborenen Instinkten und Trieben, der ihnen innewohnenden Neugier und Verspieltheit befeuert. Diese enorme Lernlust und dieser Bildungstrieb werden nicht etwa von Natur aus abgeschaltet, wenn Kinder fünf oder sechs Jahre alt werden. Wir selber schalten sie ab - mit unserem System der Zwangsbeschulung. Denn die nachhaltigste Lektion, die Schule erteilt, ist, dass Lernen Arbeit ist und nach Möglichkeit vermieden werden sollte." (P. Gray in "Befreit Lernen - Wie Lernen in Freiheit spielend gelingt"*, S. 7)

 

Und nicht nur Lernfreude und innere (intrinsische) Motivation gehen verloren. Wir gewöhnen die Kinder auch daran, dass ein immer größer werdender Teil ihres Alltags aus Arbeit besteht. Fremdbestimmter, ständig bewerteter, von Konkurrenz und Leistungsdruck geprägter Arbeit. Ist es da ein Wunder, dass viele Kinder Neugier, Lernfreude und Motivation verlieren und nur noch machen, was ihnen gesagt wurde? Aber auch nur soviel, wie absolut nötig. Und überrascht es dich, dass wir uns dann über antriebs-schwache Jugendliche ohne Eigeninitiative aufregen? 

 

Wenn ich darüber nachdenke erscheint es mir, als ob die Kindern schon in der Grundschule verinnerlichen sollen, dass es produktive (Arbeit) und unproduktive (Spiel) Beschäftigungen gibt. Denn sie sollen doch einmal produktive Mitglieder unserer Gesellschaft werden. Aber wer darf das eigentlich bewerten?

 

Und könnte es nicht sein, dass gerade Erwachsene, die spielerisch an ihre Arbeit und ihr ganzes Leben herangehen oft damit zufriedener sind als diejenigen, die sich über die schwierige oder nervige Arbeit beschweren? Was geben wir unseren Kinder mit dieser grundlegenden Bewertungsnorm eigentlich für ein Erbe mit?

 

Spielen und der Wert der Kindheit

Abschließend möchte ich noch auf einen anderen Aspekt eingehen: Wenn wir den Kindern beibringen, dass Spielen und Arbeiten (bzw. eben Lernen) deutlich unterschieden werden muss, dann sind beide Tätigkeiten vermutlich auch nicht gleichwertig. Und wenn Spielen in den Augen der Erwachsenen nicht so viel wert ist, ist dann nicht gewissermaßen die ganze Kindheit weniger wert als ein von der Arbeit geprägtes Erwachsenenleben? Erlaubt uns dieser Gedanke, die Kindheit immer stärker einzuengen und eher als Lern- und Trainingszeit den als etwas Wunderbares und Schützenswertes anzusehen?

 

Susanne Gaschke spricht in ihrem Artikel "Die Verkürzung der Kindheit" (auf ZEIT.de) in Bezug auf Medien davon, dass die Kinder überfordert werden mit den Inhalten und deshalb nicht mehr kindgemäß spielen. Da aber das Kinderspiel die Vorbereitung auf die Fähigkeiten der Erwachsenen sei, fehle eben diesen Erwachsenen dann die Kompetenz Probleme zu lösen und die Kreativität, welche unsere äußerst komplexe moderne Gesellschaft verlange. Sie beschreibt unser Verhalten den Kindern gegenüber als Langzeitversuch mit nicht abschätzbaren Folgen für die Gesellschaft. Wollen wir das?

 

"Vielleicht würde man Spiel mit mehr Respekt begegnen, wenn wir es beispielsweise "selbstmotiviertes Einüben lebenswichtiger Fähigkeiten" nennen würden, aber das würde dem Spiel seine Leichtigkeit nehmen und es dadurch in seiner Wirksamkeit einschränken." (P. Gray in "Befreit Lernen - Wie Lernen in Freiheit spielend gelingt",* S. 134)

 

Weitere Kuriositäten im Lehrplan

Der zitierte Lehrplan hält neben vielen völlig nachvollziehbaren Dingen noch weitere Kuriositäten bereit:

 

Auf Seite 100 (S. 11 im pdf-Dokument) wird die Intention "Phantasien zulassen" und "Wunschbilder entwerfen und deren Realisierbarkeit überprüfen" beschrieben, verknüpft mit den Inhalten "Traumzimmer, -schule, -haus, -spielplatz". Die Intention finde ich großartig. Nur finde empfinde ich die Überprüfung der Realisierbarkeit einerseits zu persönlich, um diese in der Klasse diskutieren zu müssen und andererseits nicht unbedingt Anleitungs- und Bewertungsbedürftig durch die Lehrkraft.

 

Auf Seite 106 (S.17 im pdf-Dokument) geht es um die Intention "Den umgebenden Raum als Mittelpunkt der Lebensbeziehungen wahrnehmen". Ich weiß ja nicht, wie das in anderen Familien ist, aber für meine Kinder sind definitiv unsere Familie und danach ihre Freunde der Lebensmittelpunkt. Auch das Zuhause spielt eine sehr wichtige Rolle. Aber "Schule, Schulumgebung, Wohnviertel, Wohnort" als Inhalte möchte ich nicht als die wichtigsten Lebensmittelpunkte bezeichnen.

 

Und dann geht es auf Seite 107 (pdf-Dokument-Seite 18) um das Thema "Freizeit gestalten" (Intention). Als Inhalt wird "Urlaubsziele an der See, im Gebirge, im Ausland" genannt. Hallo? Es geht hier um Grundschulkinder. Was nützen denen diese Urlaubsziele, wenn es um Freizeitgestaltung geht? Und außerdem finde ich es unmöglich dem Thema Freizeit mit "In Urlaub fahren" zu begegnen. Nicht jede Familie verbringt so "ihre Freizeit". Und Freizeit ist doch nicht nur Ferienzeit. Wenn man Schule als Arbeit definiert, sollte doch der Rest des Tages Freizeit sein. Und viel besser würde es mir gefallen, wenn es nicht um Möglichkeiten der Freizeit- sondern der Lebensgestaltung geht. Denn ich kennen keinen Menschen der in einer unglücklichen beruflichen Situation in seiner Freizeit ein absolut erfülltes Leben führt. Aber die Kinder haben ja diesen Spielraum nicht, denn sie sind ja nicht freiwillig hier...

Und jetzt bin ich auf deine Meinung gespannt!

Findest du meine Argumente nachvollziehbar oder übertrieben?

 

PS:

Ich möchte niemand angreifen. Natürlich ist der Lehrplan durchdacht und natürlich kann man es nicht allen recht machen. Ich hinterfrage hier nur einzelne Formulierungen.

Was ich aber tatsächlich in Frage stelle ist die Notwendigkeit eines Lehrplans und die Grundlage, auf welcher jemand (und gezwungener Maßen sind ja die Lehrer die ausführenden Kräfte) das Recht hat, solch grundlegende Lerninhalte für jemand anderes festzulegen und dann auch noch zu bewerten. Das entspricht einfach nicht meinem Menschenbild! Doch dazu mehr bei meinem Traum vom Freilernen.


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