Freilernen für Vorschulkinder - ein Einblick in unsere Art zu Leben

Meistens habe ich eine gewisse Vorstellung darüber, wie die Dinge laufen sollten. Ist doch ganz natürlich? Ich bin hier schließlich die Mama mit 25 bis 30 Jahren mehr Lebenserfahrung. Doch meine Kinder überraschen mich zum Glück immer wieder.

 

So war es auch mit der Vorschulzeit meiner Großen. Irgendwie hab ich mit "Schule" im Kopf auch "Schule" mit ihr veranstaltet, also Arbeitsblätter mit Lebenswelt-ferne Aufgabenstellungen herausgesucht. Und aus anfänglichem Interesse wurde ein immer unkooperativeres Kind, aus innerer (intrinsischer) Motivation wurde ein Mitmachen, wenn genug Mamaaufmerksamkeit oder Spielerei dabei war. Ich hab abendelang auf ihren Wunsch Dinge vorbereitet und sie hatte dann doch keine Lust - sehr frustrierend für uns beide. Was lief falsch? Und was hat das mit Freilernen (Homeschooling/ Unschooling) zu tun?

 

 

Je mehr Abende ich umsonst etwas vorbereitet hatte und je mehr frustrierende Vormittage wir erlebt hatten, desto klarer war, dass ich etwas ändern musste. Denn warum soll ich ihr Schulvorbereitendes (Empfehlung beim ersten Schulgespräch) bis Schulstoff (von ihr gewünscht) eintrichtern, wenn wir beide keinen Spaß daran haben? Ist es gut für unsere Beziehung wenn wir beide im Namen der Schule frustriert sind? Soll sie lernen, dass es auf stupide Arbeit statt auf Lernfreude und Interesse ankommt?

 

Letztendlich erledigt sie fast alle Aufgaben mit meiner Aufmerksamkeit/ Mitarbeit. Aber wirklich Spaß machen ihr beispielsweise freie Mal- und Basteleinladungen, spannende und abwechslungsreiche Materialien, selbstgewählte Herausforderungen (einen ganzen Brief schreiben, nähen, ...), Dinge erkunden und ausprobieren sowie eigenen Fragen beantworten.

 

Damit habe ich an meiner Prinzessin beobachten können, worüber ich in letzter Zeit auch immer wieder spannendes gelesen habe: Freilernen bzw. Unschooling. "Was für ein Zufall" kommt mir dabei in den Kopf. Aber seien wir mal ehrlich - natürlich lese ich über die Dinge, die hier irgendwie verbesserungswürdig sind und natürlich achte ich im Alltag verstärkt auf die Dinge, mit denen ich mich gerade beschäftige. Also nix Zufall, aber augenöffnende Entdeckung/ Entwicklung: Mein verschultes Weltbild hat sich immer mehr aufgelöst und einer großen Wertschätzung der Freiheit für alle Beteiligten, der Unterstützung des vom Kind ausgehenden natürlichen Lerneifers und der kindlichen Interessen Raum gegeben.

 

Und wie sieht Freilernen beim Vorschulkind nun im Alltag aus?

Letztendlich beschäftigen wir uns den ganzen Tag lang mit vielen verschiedenen Dingen und das Meiste hat auf den ersten Blick nicht unbedingt etwas mit "Lernen" im herkömmlichen Sinn zutun - soll es auch garnicht. Und trotzdem bin ich mir sicher, dass sie täglich genau das tut, wozu ihr Gehirn programmiert ist: sich mit den Dingen auseinander setzen, die für ein erfolgreiches Leben in unserer Gesellschaft wichtig sind = Lernen in seiner sinnvollsten und natürlichsten Form.

 

Ein großes Thema ist derzeit beispielsweise Geld. Die Prinzessin bekommt seit ein paar Monaten Taschengeld und übt den Umgang damit. Neben der Problematik Sparen oder Ausgeben (jedes Einkaufen ist eine Verlockung) ist es eine Herausforderung das Prinzip von Cents und Euros zu verstehen. Besonders, wenn man noch nicht bis 100 zählen kann. Und dann muss man noch die Preisschilder mit ihren ,99 verstehen. Also spielen wir gerade sehr oft Laden und versuchen, uns beim Einkaufen extra Zeit für ihre Fragen und Rechnungen zu nehmen. So übt sie größere Zahlen zählen, Zahlen erkennen, rechnen und Entscheidungen treffen. Und das mit einer faszinierenden Energie und Motivation - eben weil es gerade für sie wichtig ist und weil sie viel Zeit und Unterstützung dafür hat.

 

Dasselbe gilt für viele andere Bereiche. So möchte sie ganz gerne Schreiben und Lesen lernen. Aber der Wunsch ist nicht so stark, dass sie dafür viel Anstrengung investieren will. Die Lese- und Schreiblernhefte sind langweilige Fleißarbeit oder zu schwierig, also lesen und schreiben wir, wenn es sich gerade ergibt. Meist einzelne Worte die uns im Alltag begegnen. Und ich bin jedes Mal überrascht, um wieviel sich ihr Wissen ohne systematisches Training (so wie ich es aus der Schule kenne) weiterentwickelt hat. Mittlerweile erkennt sie fast alle Buchstaben, kann sich kurze unbekannte Worte erschließen und schreibt manchmal auf, was sie so im Kopf hat. So hat sie letztens im Garten eine "AMSL" beobachtet (wir sprechen es tatsächlich so ähnlich) und hat dies Papa per EMail mitgeteilt. Und sie wollte endlich eine Freundin wiedersehen aber ich hatte es irgendwie nicht geschafft ein Treffen zu organisieren. Also hat sie mir einen Brief diktiert und ihn mit aller Kraft und Konzentration abgeschrieben - die Freundin hat per Brief geantwortet und kam begeistert zum Spielen. Meine Prinzessin hat erfahren, dass sich der Einsatz gelohnt hat und wie praktisch es ist, auch schriftlich kommunizieren zu können. Jetzt werden neue Pläne geschmiedet...

 

Und so könnte ich weitermachen und euch beschreiben, wieviel selbstverständliches Lernen hier passiert und wie die wohl wichtigsten Fertigkeiten der Grundschule (Lesen und Schreiben, Rechnen und konzentriert arbeiten) quasi nebenbei aufgesaugt werden. Letzte Woche hat mein Vorschulkind beispielsweise:

  • herausgefunden wozu Mücken Blut brauchen und was sie sonst so essen, außerdem noch einiges mehr über Mückenkörperbau und Mückenentwicklung - ein Hoch auf Wikipedia
  • mich beim biologische Fakten raten ertappt: warum soll die Hummel neben dem weichen Saugrüssel einen festen Stachel haben wenn die Mücke einen Saugrüssel hat, mit dem sie auch zusticht - ups, da hat sie gut mitgedacht und wir brauchen dringend ein gutes Insektenbuch aus der Bibliothek
  • nähen geübt
  • beim Turnen eine neue Freundin gefunden
  • ein neues Interesse entdeckt: das alte Ägypten mit seinen Pharaonen, Pyramiden und Göttergeschichten - es wurde viel gelesen und diskutiert
  • ein unbekanntes Naturschutzgebiet erkundet: da gibt es kinderhandgroße Süßwasserschnecken und vieles mehr
  • Waffeln gebacken und dabei Zutaten abwiegen geübt
  • bei IKEA Erwachsenenwelt-konformes Benehmen beim Essen geübt
  • sich Einhorn-Geschichten ausgedacht und aufgemalt
  • sich selbst eine Süßigkeiten-Tüte gekauft und genau überlegt, welche Teile davon sie auf eine möglichst gerechte Art mit ihren Brüdern teilen kann
  • eine Schaukel für das Hochbett der kleinen Räuber konstruiert und sich mit den erforderlichen Knoten beschäftigt
  • sich selbst flechten beigebracht - wobei sie sich noch nicht sicher ist ob ein perfektes Ergebnis das langweilige genau abwechselnd arbeiten wert ist
  • weiter daran gearbeitet ihren Kopfstand sowie Handstand auf dem Trampolin zu perfektionieren
  • mit einem Kinderatlas die Welt bereist - Europa und Norddeutschland erkennt sie sicher, aber Ägypten konnte sie bisher nicht finden
  • ihren Brüdern die Grundzüge der Atlaskarten (Wasser, Land, ...) erklärt

Und nebenbei hatten wir wieder viele tolle Familienmomente, viel kuscheln, Vorlesen und Diskutieren und viele Möglichkeiten, die sozialen Fähigkeiten im Streit mit den Geschwistern zu trainieren.

 

Die Rolle der Eltern

Wenn ich von meinem Traum vom Freilernen erzähle, schwanken die Meinungen zwischen "Oh prima, die Kinder machen alles alleine" und "Das ist aber verdammt viel Arbeit und Verantwortung für die Eltern". Und ich denke beides trifft es nicht ganz. Mein Traum wäre es, dass eigenständige Lernen und die Interessen der Kinder zu unterstützen und gleichzeitig für viele verschiedene Anregungen und Anreize zu sorgen. Das hat sehr viel mit der Beziehung zum Kind und der eigenen inneren Haltung zutun, denn es erfordert ein sehr intensives Leben mit den Kindern.

 

Man muss offen sein für die aufblitzenden Interessen der Kinder und immer wieder nach Wegen suchen, diese aufzunehmen und auszubauen. Es gilt gerade bei jüngeren Kindern Materialien bereitzustellen und anregende Erfahrungen zu ermöglichen. Und man sollte selber vorleben, wie man neugierig und aktiv am Leben teilnimmt und sich nicht nur auf dem Sofa und vor Fernseher und PC aufhalten.

 

Es ist definitiv eine anspruchsvolle Art mit Kindern zu leben und gelegentlich denke ich, dass ein Schreibtischjob mit netten Kollegen doch auch seine Vorteile hat. Auf der anderen Seite bin ich aber unendlich glücklich darüber und dankbar dafür, dass ich meine Kinder bisher so intensiv erleben darf. Denn sie sind bereits jetzt wunderbare Persönlichkeiten (nicht erst auf dem Weg dahin) mit großartigen eigenen Ideen und einer nahezu unstillbaren Neugier auf die Welt.

 

Außerdem bereichert es mein Leben ungemein wieder Fragen zu stellen ohne Angst zu haben, dass es eine doofe Frage sein könne. Und eben auch die Zeit und Muse zu haben die auftretenden Fragen zu beantworten. Wieder zu lernen auf meine Tagesform zu hören (worauf habe ich heute eigentlich Lust?) und wieder ziellos draußen unterwegs zu sein und einfach zu schauen, was uns Spannendes auffällt.

 

Was ich mir wünsche

Letztendlich würde ich einfach gerne den eingeschlagenen Weg weitergehen dürfen. Weiter zusammen mit den Kindern in den Tag hineinleben und neugierig sein, was für neue Erfahrungen und Ideen er so mit sich bringt. Weiter dem Wunder zusehen, dass die Kinder genauso wie Laufen und Sprechen eben auch unzählige andere "Lerninhalte" auf ihre ganz individuelle Art lernen und dann unheimlich stolz darauf sind. Und gleichzeitig den familiären Zusammenhalt genießen anstatt die Geschwister auseinander zu reißen und für die Wünsche und Bedürfnisse der Großen nur noch einen Teil des Tages zu haben.

 

Natürlich ändern sich die Bedürfnisse mit dem Älter-werden der Kinder. Doch gerade die Grundschulzeit mit ihrem überschaubaren Lernpensum könnte ich mir sehr gut als ein weiter wie bisher vorstellen. Doch dazu bräuchte es ein Umdenken in den Schulbehörden bzw. eine Anpassung der Gesetzgebung. Und es bräuchte weitere mutige Familien, die diesen Lebensstil in unserer Umgebung leben. Denn wir wollen die Kinder nicht isolieren, wollen verschiedene Projekte und Ausflüge gerne in Gemeinschaft erleben.

 

Und ohne das Prinzip Schule überhaupt zu kritisieren frage ich mich, wer hat eigentlich das Recht mir als Elternteil und Verantwortlicher für meine Kinder dieses Recht zu nehmen? Und entspricht es tatsächlich dem Grundsatz "das Beste für das Kind", wenn es zwangsweise aus einer Lebenswirklichkeit genommen wird, die ihm aktuell sehr gut tut und in welcher es gut auf ein selbstbestimmtes und zufriedenes Erwachsenenleben vorbereitet wird.

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Mama Magie (Montag, 26 September 2016 09:25)

    Hallo,

    du hast einen ganz tollen Blog. Erstaunlich, wie ähnliche Erlebnisse, Erfahrungen und Gedanken wir haben. Ich finde mich bei dir sehr wieder und werde deinen Blog weiter verfolgen.

    Ich wünsche euch alles Liebe, bis bald,
    Mama Magie

  • #2

    Maria (Montag, 26 September 2016 14:25)

    Hallo Mama Magie,

    schön, dass dir mein Blog gefällt. Und wunderbar von jemandem zu lesen, der ähnliches erlebt hat und ähnlich denkt! Lass uns die Welt verbessern, wenigstens im ganz Kleinen ;-)

    Liebe Grüße,
    Maria