Leben als Freilerner - Was hat das für Vorteile?

An 7 Tagen die Woche 24 Stunden pro Tag für die Kinder da sein und gleichzeitig die Verantwortung übernehmen, dass sie ausreichend Lernstoff verinnerlichen um Schulabschlüsse zu erreichen - kann man das freiwillig machen? Ich würde gerne, genauso wie viele andere Familien beispielsweise in Frankreich und England, Nordamerika und Australien. Doch was sind eigentlich die Vorteile eines Homeschooling- oder eben Freilerner-Lebensstils?

 

Seit einem dreiviertel Jahr geht keiner meiner 3 Kinder (2, 3 & 6 Jahre) in eine Kinderbetreuungseinrichtung. Und sehr häufig höre ich Bemerkungen wie "Das könnte ich nicht." oder "Wie hältst du das nur aus?" oder "Was macht ihr den ganzen Tag?" oder "Fehlen den Kindern keine Freunde?". Einige bemitleiden mich und andere machen sich Sorgen um meine Kinder, ob sie ausreichend Input und Sozialkontakte haben. Doch fast niemand versteht, wie gut diese intensive Familienzeit den Kindern und auch mir tut. Wie viele schöne Dinge wir statt KiTa  eben genau durch diesen Lebensstil machen können. Und wie entspannend die Freiheit ganz man selbst zu sein und ganz frei über den eigenen Tag entscheiden zu können auf Kinder und Eltern wirkt. Wir haben plötzlich soviel wunderbare Zeit für Spiele und Kuschelstunden, für Bastelprojekte und Bücher, zum gemeinsam Kochen, Ausflüge machen und vieles mehr. Gerade vormittags, wenn alle noch ausgeruht und gut gelaunt sind. Und trotzdem können wir nachmittags Freunde besuchen oder am Vereinssport etc. teilnehmen. Für uns ist dieser Lebensstil derzeit ideal.

 

Weil mein Bauchgefühl lange nicht ausreichte um den selbstverständlichen Weg zu verlassen, haben wir uns lange den Weg zurück in KiTa und Krippe offen gelassen. Und trotzdem wollte niemand zurück, weder Kinder noch Mama. Denn unser neues, freieres und selbstbestimmtes Leben hat uns allen besser gefallen. Und genau diese Freiheit würden wir gerne noch länger genießen - als Freilerner statt Schulkindfamilie. Wie schon in Teil 1 dieser Serie, "Wie ich zum Thema Freilernen kam" erwähnt, möchte ich heute die Vorteile dieses Lebensstils für die Kinder aber auch die Familien und den Lernprozess beschreiben. Auch wenn "einfach damit weitermachen, womit wir glücklich sind" eigentlich schon Alles sagt.

 

Frag bloß nicht nach dem Sinn

Meine eigene Schulzeit, zumindest die letzten Jahren in denen ich nach dem Sinn gefrag habe, fühlten sich an wie Zeitverschwendung. Die Zeit für Schulstunden, Hausaufgaben und sonstige schulrelevante Verpflichtungen war in späteren Schuljahren länger als die Arbeitstage meiner Eltern. Danach fehlte sehr oft der Elan, mich noch irgendwie mit eigenen Projekten und Interessen zu beschäftigen. Und diese Zeit war einfach weg, Woche für Woche, Jahr für Jahr. Verschwendete Lebenszeit, in der ich mich so viel lieber mit anderen Dingen beschäftigt hätte.

 

Und warum das Ganze? Weil die Gesellschaft glaubt, dass man Kinder nur auf diese Art auf ein Erwachsenenleben vorbereiten kann. Wissen von dem nur wenig hängen bleibt, eine erzwungene Sozialisation (mehr dazu im folgenden Post über Kritik am Freilernen), fragloses Unterordnen in Machtstrukturen und erlernte Hilflosigkeit (andere müssen mir sagen, was ich wie tun soll) - wiegt das wirklich eine freie und selbstbestimmte Kindheit und Jugend auf?

 

Ich habe den Sinn als Schulkind nicht verstanden und suche ihn noch immer. Und anderen geht es ebenso. Großartiger Lesestoff (allerdings auf Englisch) ist dazu beispielsweise "Getting educated, losing Yourself" (Gebildet werden, sich selbst verlieren) und "Do we have the right to educate children?" (Haben wir das Recht die Kinder zu bilden?) von HappinesIsHere.

 

Wir würden gerne die Freiheit wählen

Vielleicht habe ich als Kind der DDR ein besonderes Verhältnis zur Freiheit, vielleicht ist es auch einfach Teil meiner Persönlichkeit. Tatsache ist jedoch, dass ich schon immer gerne selbst über mich, meine Zeit und meinen Lebensstil bestimmen wollte. Und auch meinen Kindern gestehe ich diese Freiheit soweit wie möglich zu. Auch wenn sie sich, wie ich natürlich auch, oft den Umständen unterordnen müssen. Was wir unter Freiheit verstehen?

 

Wir Erwachsenen sind frei unseren Lebensstil selbst zu bestimmen und unsere Tage selbst zu gestalten. Natürlich muss sich jemand um das Einkommen der Familie kümmern sowie um den reibungslosen Ablauf und die Betreuung der Kinder. Doch wie wir das machen und welche Maßstäbe wir ansetzen ist allein unsere Entscheidung. Auch mit welchen Menschen wir uns umgeben ist zu Großteil unsere eigene Entscheidung. Unsere Kindern haben momentan die persönliche Freiheit selbst zu bestimmen, mit was sie sich beschäftigen wollen und mit welchen Menschen sie ihre Tage verbringen möchten. Und sie genießen diese Freiheit sehr.

 

Doch die Schule nimmt unseren Kindern und uns viele Freiheiten. Sie diktiert einen Tagesrhythmus mit Anwesenheitspflicht am Vormittag, am Nachmittag irgendwann Hausaufgaben und bloß nicht zu spät in´s Bett. Selbst Essen und Trinken sowie der Gang zur Toilette werden in den Schulrhythmus eingetaktet. Und längere Pausen an Wochenenden und in Ferienzeiten liegen nicht unbedingt an den Tagen, an denen das Wetter gut ist oder ein Familienmitglied Geburtstag hat.

 

Die Schule bestimmt auch darüber, zu welchem Zeitpunkt die Schüler sich mit welchen Inhalten beschäftigen müssen - völlig unabhängig von den Interessen und dem Entwicklungsstand der Schüler. Der Lehrplan bestimmt das Thema, Tests kontrollieren den Lernfortschritt und die Schulglocke sorgt dafür, dass nach völlig willkürlichen 45Minuten das nächste Unterrichtsfach an der Reihe ist.

 

Auch die Mitschüler kann man natürlich nicht frei wählen und so ist das Schulkind viele Stunden pro Tag mit Kindern und Lehrern zusammen, mit denen vielleicht einfach die Chemie nicht stimmt. Vielleicht sind 20 bis 30 Kinder in einem eher kleinen Raum auch überwältigend viele (man stelle sich solch einen Arbeitsplatz vor), doch danach fragt niemand. Nicht einmal den Tischnachbar dürfen die meisten Schulkinder selber auswählen.

 

Sieht so Freiheit aus?

 

Wie wäre es stattdessen mit einem Leben im Rhythmus der Familie? In dem sich die Lernzeit flexibel den Gegebenheiten anpasst. In welchem Lernen auf das Kind ausgerichtet ist hinsichtlich der Methoden und der Themen. Wenn Fachunterricht mit Büchern auf dem Sofa, in Museen und in Lerngruppen mit Freunden stattfindet. Wenn Schreiben im Alltag stattfindet oder Informationen zu Lieblingsthemen notiert werden dürfen. Wenn Rechnen beim Spielen und Einkaufen geübt wird. Und wenn eine anregende Umgebung, liebevoll ausgewählte Materialien und tolle Menschen an seiner Seite das Lernen des Kindes bestärken. Wäre das nicht ein freierer, erstrebenswerter Lebensstil? Wer hat eigentlich das Recht uns diese Freiheiten wegzunehmen???

 

Weitere konkrete Vorteile für Kinder und ihre Familien

Die Schule übt nicht nur auf die Schulkinder sondern auf die ganze Familie einen ziemlichen Druck aus. Morgendlicher Stress, Ärger mit den Hausaufgaben, Lerndruck und Versagensängste, Nachhilfe und sozialer Druck - alles Dinge, auf die wir als Familie gerne verzichten würden. Letztendlich geht es neben dem Lernstoff auch um Gehorsam und Disziplin, um Unterordnen und Macht, um Konkurrenz statt Miteinander. Jeder Einzelne soll sich in das fremdbestimmte System eingliedern: Die Kinder sollen sich anpassen, vorher festgelegte Antworten wiedergeben, nach festgelegten Normen funktionieren und möglichst positiv auffallen - das verspricht gute Noten (wobei nur wenige gut sein können), soziale Anerkennung und wenig Ärger mit der Schule. Kreativität und selbst-motivierte Lernfreunde, Teamarbeit und freies Denken sind nur bedingt gefragt und sehr willensstarke und eigensinnige Persönlichkeiten haben es schwer.

 

Und die Alternative? Bei uns ist jeder gleich viel wert und gleich wichtig, unabhängig von Leistung, Fleiß und Betragen. Und eigene Ideen, kritische Fragen und kreative Lösungsansätze stellen uns Eltern zwar oft vor eine Herausforderung und strapazieren die Nerven, sind jedoch grundsätzlich willkommen. Damit ist unser Alltag zwar sehr turbulent und anstrengend, aber glücklich und voller Lebensfreude. Ich glaube, diese intensive Familienzeit ist kostbar für Eltern und Kinder, aber auch für die Geschwister untereinander. Genauso wie möglichst viel unverplante Zeit, zuerst um intensiv zu Spielen, in der Natur zu sein und Freunde zu treffen. Später für Hobbies und Interessen. Besonders Kreativität und Eigenantrieb brauchen vor allem Zeit und Muse. Ich glaube vielen "faulen Jugendlichen" fehlt es einfach nur an selbstbestimmter Zeit und "Platz im Kopf".

 

Wenn das Kind viel Zeit in der Familie sowie mit guten Freunden verbringt, dann hat es die Chance länger Kind zu sein. Meine Tochter genießt Filme und CD´s welche laut ihrer Freundinnen toll sind, doch so wirklich versteht sie das Abenteuer Pubertät, erster Kuss und ähnliches noch nicht - kein Wunder, sie ist 6 Jahre alt. Und ich finde es gut so, sie darf sich gerne aus sich heraus entwickeln anstatt aus gesellschaftlichen Vorgaben. Gerade Gruppendynamiken und Gruppendruck können unkontrollierbaren Schaden anrichten. Wer sich nicht mehr traut er selbst zu sein, aus Angst, von den anderen als Uncool dazustehen, der lernt nicht unbedingt auf die eigenen Bedürfnisse zu achten. Und im Extremfall können Mobbing und ähnliches das Kind völlig aus der Bahn werfen.

 

Letztendlich wünsche ich mir starke und selbstzufriedene, neugierige und lerneifrige, fest verwurzelte und unternehmungslustige Kinder. Ich wünsche ihnen die Möglichkeit ihr eigenes Leben zu gestalten und eine willensstarke sowie eigensinnige Persönlichkeit zu sein, sowohl in der Kindheit als auch als Erwachsene.

 

Lernen wir für die Schule oder für´s Leben?

An wieviel Schulwissen kannst du dich noch erinnern? Ich habe unendlich viel vergessen. Und ich vermute, dass es anderen auch so geht. Also warum musste ich mich jahrelang damit auseinandersetzten bzw. so vieles mehr oder weniger oberflächlich auswendig lernen? Bin ich damit ein besserer Erwachsener? Kann ich ein erfüllteres Leben führen und effektiv am Erwerbsleben teilnehmen?

 

In einer immer schnelllebigeren Welt kommt es meiner Meinung nach immer weniger auf auswendig gelernte Fakten und an das möglichst perfekte Funktionieren in vorgegebenen Strukturen an. Eine viel bessere Vorbereitung erscheint mir die eigene Lernfreude zu kultivieren, das völlig überwältigende Informationsangebot unserer Zeit manövrieren zu lernen und immer darin bestärkt zu werden, eigene Wege zu suchen. Letztendlich bezweifle ich, dass die Schule gut auf ein zufriedenes und selbstbestimmtes Erwachsenenleben vorbereitet.

 

Eine glücklichere Kindheit?

Natürlich lehne ich mich sehr weit aus dem Fenster wenn ich behaupte, dass freiere Kinder potentiell glücklichere Kinder sind. Warum ich trotzdem der Meinung bin? Viele meiner schönsten Kindheitserinnerungen hängen mit Freiheit zusammen: endlose Stunden im Innenhof oder quer über unsere Straße, im Wald oder am Fluss, in unserem Naturgarten oder den umliegenden Gebüschen. Oder aber ich hatte die Möglichkeit in meinen eigenen Spielwelten, in Büchern  oder Hobbies zu versinken. Immer jedoch ging es um selbstbestimmte Zeit und Freiheit, um selbstgewählte Gesellschaft oder eben Zeit ganz für mich.

 

Heute beobachte ich den Reiz der Freiheit an meinen Kindern. Sie spielen mal ruhig für sich und mal wild mit Geschwistern und/oder Freunden. Sie wechseln endlos zwischen verschiedenen Spielen oder sind stundenlang konzentriert beschäftigt. Sie sind ganz sie selbst und machen oft das, was ihnen gut tut. Und ich glaube, sie sind meistens glücklich.

 

Diese Vorstellung bestätigen sowohl Gespräche mit Freunden über deren Kindheit als auch Literatur, beispielsweise das tolle Buch "Wie aus Kindern glückliche Erwachsene werden" von G. Hüther und C. Nitsch (ich arbeite gerade an einer Buchvorstellung). Von daher behaupte ich einfach, dass Freiheit natürlich nicht alles ist für glückliche Kinder, aber ein wichtiger Faktor. Und wenn meine Kinder nicht in die Schule gehen, dann sind sie definitiv freier.

 

Stoff zum Weiterlesen, Weiterdenken, Weiterträumen

Noch mehr konkrete Vorteile gesucht? Es ist schwierig die Vorteile einer Weltanschauung und eines (für mich erstrebenswerten) Lebensstils zu beschreiben. Deshalb möchte ich hier noch ein denkwürdiges, immernoch sehr aktuelles Zitat wiedergeben:

 

"Die Zeit ruft nach Persönlichkeiten, aber sie wird so lange vergeblich rufen, bis wir die Kinder als Persönlichkeiten leben und lernen lassen, ihnen gestatten, einen eigenen Willen zu haben, ihre eigenen Gedanken zu denken, sich eigene Kenntnisse zu erarbeiten, sich eigene Urteile zu bilden; bis wir, mit einem Wort, aufhören, in den Schulen die Rohstoffe der Persönlichkeit zu ersticken, denen wir dann vergebens im Leben zu begegnen hoffen" (Elle Key, um 1900)

 

Außerdem verweise ich gerne wieder auf einen meiner Lieblingsblogs zum Thema "Why we homeschool" von HappinessIsHere.

 

Und damit möchte ich diesen Post beenden. Es war unerwartet schwierig hier die hoffentlich richtigen Worte zu finden - das Thema liegt mir so sehr am Herzen. Ich will weder Lehrer noch Schulkindeltern kritisieren und ich will hier nicht allein durch meine Worte jemanden gegen das Freilernen aufbringen. Viel lieber möchte ich, dass ihr verstehen könnt, warum ich das Freilernen als großartige Alternative zum Schulbesuch betrachte. Warum ich mir wünsche, dass sich endlich in Deutschland etwas verbessert für die Familien, die diesen Lebensstil gerne wählen würden. Doch nun interessiert mich deine Meinung: Könnte Freilernen eine Alternative zum Schulbesuch sein?

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